0998 - Die Welt der verlorenen Kinder
leisen Stimmen, ihre Angst und Bedrückung. Ich habe es erlebt. Ich habe sie auch singen gehört. Sie waren da, und sie hielten sich dort auf, wo auch der Weihnachtsbaum stand. Es paßt schon einiges zusammen, denke ich.«
»Und auch das Bild«, flüsterte Grace Felder. »Ich frage mich nur, warum es gemalt worden ist.«
»Da können wir Ihren Vater fragen.«
»Meinen Sie, er hätte das Wissen?«
»Ohne weiteres. Ihr Vater kennt die Historie. Er hat sich mit ihr beschäftigt. Er weiß genau Bescheid, und er darf sein Wissen nicht länger für sich behalten.«
»Warum hat er mir denn nie etwas davon gesagt?«
»Weil er zuviel wußte, Grace, und Sie damit schützen wollte. Je mehr Mensehen über gewisse Dinge informiert sind, um so größer kann die Gefahr für sie werden. So zumindest sehe ich es, aber das ist noch Spekulation. Ich werde Ihren Vater jetzt ansprechen und…«
»Nein, John!« Der Ruf klang hektisch. »Bitte, tun Sie das nicht. Gehen Sie nicht zu ihm und sprechen Sie ihn nicht an. Er war so seltsam.«
»Was sollen wir dann tun?«
»Ich kann es übernehmen«, sagte Grace. »Ich werde den Anfang machen. Es ist mein Vater, und ich weiß auch, daß er leidet. Halten Sie sich bitte zurück.«
»Gut, wie Sie wollen.«
»Danke, John.«
Mir waren die Dinge nicht geheuer. Ich konnte selbst Grace nicht richtig einschätzen. Sie wußte einiges, aber hatte sie mir auch gesagt, was sie wußte? Hielt sie etwas zurück? Hatte sie nur einen Teil ihres Wissens preisgegeben?
Bisher hatten wir nicht viel von Reverend Felder gesehen. Nur den Hinterkopf.
Er hatte auch nicht auf unsere Unterhaltung reagiert und sich nicht mal bewegt, so daß mir zumindest schon ein schrecklicher Verdacht gekommen war.
Ich hielt mich an Grace’s Anweisungen und ließ ihr den Vortritt. Sie fühlte sich ebenfalls nicht wohl in ihrer Haut, und sie schritt mit sehr vorsichtigen Bewegungen am Schreibtisch vorbei, ließ die Schmalseite hinter sich und schlug einen kleinen Bogen, um sich dann zwischen ihren Vater und das Bild zu stellen.
Ihr Gesicht war sehr fahl geworden. Übergroß wirkten die Augen. Sie zitterte auch, hielt die Arme halb erhoben und hatte ihre Handflächen gegen die Wangen gedrückt, als wäre sie in einem Schockzustand erstarrt.
Dann beugte sie sich vor.
Ich wartete noch und war nur zwei Schritte nach vorn gegangen, sah den Mann aber von der Seite.
Ein sehr blasses Profil. Scharf trat die Nase hervor. Das Haar lag flach auf dem Kopf und bildete weiße Streifen. Die Arme und Hände lagen nicht auf den Lehnen, der Reverend hatte sie in seinen Schoß gelegt und dabei auf eine Unterlage drapiert, die mir zuerst vorkam wie ein Brett, das dunkel gestrichen war.
Das war es aber nicht, sondern ein Buch mit schwarzem Einband. Wahrscheinlich eines der alten Kirchenbücher.
Obwohl seine Tochter jetzt direkt vor ihm stand, hatte sich der Reverend nicht gerührt. Er sah sie nicht, und auch ich mußte mich schon zur Seite drehen, um erkennen zu können, ob die Augen offen oder geschlossen waren.
Sie standen offen. Aber der Blick war leer. Er war nach innen gerichtet und schien sich tatsächlich in der Seele des Menschen verloren zu haben.
Grace Felder beugte sich ihrem Vater entgegen. Es kostete sie schon Überwindung, ihn anzusprechen, und sie hauchte ihn mehr an, als daß sie zu ihm sprach. »Vater - hörst du mich? Bitte, du mußt antworten, Vater, ich bin es doch - ich, Grace!«
Felder bewegte sich nicht. Mit keiner Geste gab er zu erkennen, daß er seine Tochter gehört oder gesehen hatte. Er blieb einfach nur in seinem Holzstuhl hocken, den Blick nach vorn gerichtet, auf das Bild, das er bestimmt nicht sah.
Grace wechselte den Blick und schaute mich an. »John, er rührt sich nicht. Er - kommt mir vor wie tot.«
Ich schüttelte den Kopf. »Versuchen Sie es noch einmal.«
»Ja, gut.« Diesmal trat sie näher an ihren Vater heran. So nahe, daß sie ihn anfassen konnte, sofort aber wieder zurückzuckte, als hätte sie einen Toten berührt.
»Was ist?«
Grace stand mit erhobenen Händen auf der Stelle. »Sein Hände sind so kalt…«
Ich wußte, was sie dachte. Bevor sie noch die Folgerung aussprechen konnte, war ich bei ihrem Vater und kümmerte mich um ihn. Auch ich faßte ihn an, aber meine Hände zuckten nicht zurück, denn ich kannte den Unterschied zwischen einem Toten und einem Lebenden. Dieser Mann hier war nicht tot. Er war nur unterkühlt, als hätte er lange Zeit draußen in der Kälte
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