1 Frau, 4 Kinder, 0 Euro (fast): Wie ich es trotzdem geschafft habe
Anruf, ich solle mich drei Tage später zu einem Vorstellungstermin in der Lounge eines bekannten Hotels im Zentrum Westberlins, das zu einer internationalen Luxushotelkette gehört, einfinden. Bewerbungsunterlagen? Nicht nötig, einfach vorbeikommen. Der letzte Teil des Satzes wurde gereizt weggeschludert. Klick.
An einem diesigen Morgen brachte ich die Kinder zur Schule, Vorschule und Kita und fuhr dann gleich weiter in die Westberliner City zu dem Hotel, das seine allerbesten Zeiten bereits hinter sich gelassen zu haben schien.
Mein Mann saß derweil zu Hause in seinem improvisierten Arbeitszimmer und führte kostspielige Handytelefonate mit vermeintlichen Freunden: Geschäftsmänner, die ihm – ganz uneigennützig – helfen wollten, nicht vorhandenes Geld innerhalb von sieben Tagen auf wundersame Weise zu vermehren.
Nie hätte ich gedacht, dass sich so viele Menschen auf Kleingedrucktes melden. Die Hotellounge war voll: ganz junge, kaum der Pubertät Entronnene, viele Mittvierziger, auch ältere Männer und Frauen. Die Hotelgäste saßen entspannt in den Lounge-Möbeln und ließen das Schauspiel amüsiert an sich vorüberziehen. Niemand von uns wagte es, sich zu setzen, die Sofas und Sessel waren einer anderen Kaste vorbehalten.
Es gab einen Tisch, an dem man sich registrieren musste. Der potenzielle Arbeitgeber schien eine international operierende Telefonmarketing-Firma zu sein – wir wurden darüber nie aufgeklärt. Ein junger Mann im Vertreteranzug nahm routiniert Namen, Adresse, Alter auf. Die junge Frau vor mir zupfte an ihrem zu roten Kleid, der Polyesterstoff klebte an ihrer Strumpfhose, die weißen Stiefeletten waren fleckig. Dann kam ich an die Reihe, hier ist Ihre Nummer – Sie werden aufgerufen.
Drei Stunden Wartezeit sind lang, aber niemandem dort war es zu viel, die Aussicht auf einen bezahlten Job war Grund genug, geduldig auszuharren. Es war unheimlich leise, man unterhielt sich kaum, jeder hätte genau derjenige sein können, der einem den Job vor der Nase wegschnappt. Hin und wieder wurde eine Nummer aufgerufen, die Person verschwand hastig in Richtung des Ausrufers und ward dann nicht mehr gesehen, da musste es einen Hinterausgang geben. Die wartende Masse wurde nicht weniger, es kamen immer wieder Neue hinzu, gehetzte Gesichter, niemand mit einem Funken Neugierde dabei, alle mit diesem duldsamen Ausdruck.
»Nummer zweihundertvier!« Ein anderer junger Mann führte mich in eine Art Frühstücksraum, alle Tische sorgfältig eingedeckt, nur der Tisch vorne war voller Unterlagen, und dort saß eine junge Frau, die kurz aufstand, als ich eintrat. Die Tür schloss sich leise, und ich war allein mit ihr.
Die Frau schien es gewohnt zu sein, Menschen in kürzester Zeit zu beurteilen. Sie taxierte mich blitzschnell, pünktchengroße Pupillen in stahlblauen Augen, ein schmaler Mund, sie war fast ungeschminkt. Ich schätzte sie auf Anfang dreißig. Ihre hellbraunen Haare waren straff zurückgekämmt zu einem tief angesetzten Pferdeschwanz, kein Schmuck, nichts Auffälliges. Sie trug einen dunkelgrauen Business-Anzug, darunter eine klassische weiße Bluse, es war nichts an ihr, was Aufmerksamkeit hätte erregen können. Ein fester Händedruck, sie stellte sich kurz vor, sie hatte einen spanischen Akzent. Ich taufte sie insgeheim Madame España.
Sie wandte sich mir lächelnd zu. »Wir beide wollen uns ein wenig unterhalten.« Sie informierte mich kurz: Es ging im Kern um Premium-Mitgliedschaften, die für teuer Geld an bestehende Kunden der Hotelkette und solche, die es gefälligst zu werden hatten, am Telefon verkauft werden sollten. Jetzt folgte Frage auf Frage, rattattatta, kaum Zeit zu antworten, dazwischen immer mal wieder ein perfektes Lächeln, nur die Augen passten nicht dazu. Inbound, outbound, telefonieren Sie gerne, do you speak English, haben Sie Verkaufserfahrung, parlez-vous français, warum haben Sie sich auf die Anzeige gemeldet, wollen Sie viel Geld verdienen …
Es ist merkwürdig, wie ruhig man wird, wenn man nichts zu verlieren hat.
Ich sah mich wieder an unserem Esstisch sitzen, links und rechts neben mir zwei Unternehmensberater, die mit angestrengter Miene und eine Spur zu eilfertig auf meinen Mann einredeten. André saß mir gegenüber, die langen Arme selbstbewusst verschränkt, und wiederholte mantramäßig die Umsatzzahlen des letzten Geschäftsjahres. Ich verstand nichts, rein gar nichts von dem, was da besprochen wurde. Oben wimmerte die zahnende kleine
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