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1 - Wächter der Nacht

1 - Wächter der Nacht

Titel: 1 - Wächter der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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noch immer in meinen Rücken, schlängelte sich wie ein unsichtbarer Faden hinter mir her.
    Zur Toilette schaffte ich es gerade noch. Fünf Minuten später kam auch mein Peiniger.
    »Besser?«
    »Ja«, entgegnete ich schwer atmend. Ich kam von den Knien hoch und hielt den Kopf ins Waschbecken. Schweigend drehte Semjon am Hahn und klopfte mir auf den Rücken.
    »Entspann dich«, riet er. »Bisher waren das bloß Hausmittel, aber …«
    Über meinen Körper lief eine heiße Welle. Ich stöhnte auf, wehrte mich aber nicht länger. Das dumpfe Gefühl war bereits von mir gewichen, jetzt verflüchtigte sich die letzte Trunkenheit aus meinem Körper.
    »Was machst du?«, fragte ich bloß.
    »Ich helfe deiner Leber. Ein paar Schluck Wasser, und dir geht’s besser.«
    Was stimmte.
    Nach fünf Minuten verließ ich aufrecht gehend die Toilette, in Schweiß gebadet, klatschnass, mit rotem Kopf, aber absolut nüchtern. Und versuchte sogar schon wieder, mich obenauf zu zeigen. »Warum hast du dich da eingemischt? Ich wollte mich betrinken – und ich habe mich betrunken.«
    »Diese Jugend.« Semjon schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Betrinken wollte er sich! Wer betrinkt sich denn mit Kognak? Noch dazu auf Wein und in dem Tempo, einen halben Liter in einer halben Stunde. Als Saschka Kuprin und ich uns mal betrinken wollten …«
    »Welcher Saschka?«
    »Na, du weißt schon, der Schriftsteller. Nur dass er da noch nicht geschrieben hat. Wir haben uns tüchtig betrunken, wie Menschen, die etwas auf sich halten, es eben tun, bis zum Umfallen nämlich, während auf den Tischen getanzt und in die Decke geschossen wurde und allgemeine Ausschweifung herrschte.«
    »Und er? War er ein Anderer?«
    »Saschka? Nein, aber ein prima Kerl. Wir haben ein Viertel ausgetrunken und die Gymnasiastinnen mit Sekt abgefüllt.«
    Schwer ließ ich mich auf das Sofa plumpsen. Ich schluckte, schaute auf die leere Flasche, und erneut kam es mir hoch.
    »Und mit einem Viertel habt ihr euch betrunken?«
    »Ein Vierteleimer, wie soll man da nicht betrunken sein?«, wunderte sich Semjon. »Betrinken kann man sich, Anton. Wenn’s sein muss. Aber dann mit Wodka. Kognak, Wein – das ist was fürs Herz.«
    »Und wofür ist Wodka?«
    »Für die Seele. Wenn sie richtig schmerzt.«
    Mit leichtem Vorwurf im Blick sah er mich an, ein komischer kleiner Magier mit listigem Gesicht, mit seinen komischen kleinen Erinnerungen an große Menschen und große Schlachten.
    »Ich habe einen Fehler gemacht«, gab ich zu. »Danke, dass du mir geholfen hast.«
    »Quatsch, mein Alter. Zu meiner Zeit habe ich einen Namensvetter von dir dreimal pro Abend nüchtern gemacht. Damals war es nötig zu trinken, aber nicht betrunken zu werden, für die Sache.«
    »Meinen Namensvetter? Tschechow?«, mutmaßte ich.
    »Nein, wie kommst du denn darauf. Einen anderen Anton, einen von uns. Er ist gestorben, im Fernen Osten, als die Samurai …« Semjon winkte ab und verstummte. Nach einer Weile fuhr er fast zärtlich fort: »Du solltest nichts überstürzen. Heute Abend machen wir alles so, wie es sich gehört. Jetzt sollten wir zu den andern. Gehen wir, Anton.«
    Gehorsam folgte ich Semjon aus dem Haus. Und sah Sweta. Sie saß in einem Liegestuhl, hatte sich bereits umgezogen und trug jetzt einen Badeanzug und einen bunten Rock – oder ein Stück Stoff um die Hüften.
    »Alles in Ordnung?«, fragte sie mich leicht verblüfft.
    »Absolut. Hab das Schaschlik nicht ganz vertragen.«
    Swetlana sah mich eindringlich an. Aber abgesehen von meinem geröteten Gesicht und den nassen Haaren ließ offenbar nichts mehr auf meine plötzliche Trunkenheit schließen.
    »Du solltest dir mal die Bauchspeicheldrüse untersuchen lassen.«
    »Ist schon wieder alles in Ordnung«, warf Semjon rasch ein. »Glaub mir, ich habe mich auch mit Heilung beschäftigt. Die Hitze, der saure Wein, das fettige Schaschlik – daran hat’s gelegen. Jetzt geht er baden, und heute Abend trinken wir eine Flasche im Schatten. Das reicht an Behandlung.«
    Sweta stand auf, kam auf uns zu und sah mir mitleidsvoll in die Augen.
    »Vielleicht setzen wir uns hier ein bisschen hin? Ich mache einen starken Tee.«
    Ja, gewiss. Das wäre schön. Einfach dasitzen. Zu zweit. Tee trinken. Reden oder schweigen. Das spielt keine Rolle. Sie ab und an ansehen oder auch nicht. Ihren Atem hören – oder die Ohren verschließen. Hauptsache, dass wir zusammen sind. Wir zwei, und nicht das einträchtige Kollektiv der Nachwache. Und dass wir deshalb

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