Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
1 - Wächter der Nacht

1 - Wächter der Nacht

Titel: 1 - Wächter der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
Vom Netzwerk:
Mitleid.
    »Nein, warum denn das? Meinem Freund hat es sehr gefallen. Er hat gesagt, dass er danach verstanden hat, was ein richtiges russisches Besäufnis ausmacht.«
    »Und was ist das?«
    »Das ist, wenn du morgens aufwachst und alles um dich herum grau ist. Der Himmel ist grau, die Sonne ist grau, die Stadt ist grau, die Menschen sind grau, deine Gedanken sind grau. Und der einzige Ausweg ist, weiterzutrinken. Dann geht es dir besser. Dann kommen die Farben zurück.«
    »Muss ein interessanter Ausländer gewesen sein!«
    »Kannst du sagen!«
    Semjon schenkte erneut ein, diesmal aber weniger. Dann dachte er kurz nach und füllte die Gläser bis zum Rand.
    »Trinken wir, mein Alter. Trinken wir darauf, dass wir nicht unbedingt trinken müssen, um einen blauen Himmel, eine gelbe Sonne und eine bunte Stadt zu sehen. Lass uns darauf trinken. Wir beide treten ins Zwielicht ein und sehen, dass die Welt von ihrer Kehrseite aus betrachtet nicht die ist, die jeder sonst dafür hält. Aber vermutlich gibt es nicht nur diese eine Kehrseite. Auf die leuchtenden Farben!«
    Völlig verwirrt trank ich ein halbes Glas.
    »Keine halben Sachen, Junge«, sagte Semjon im selben Ton wie zuvor.
    Ich trank aus. Aß eine Hand voll von dem knackigen süßsauren Kohl.
    »Warum führst du dich so auf, Semjon?«, fragte ich. »Wozu dieser übertriebene Aplomb, dieses Image?«
    »Mächtig schlaue Wörter, so was verstehe ich nicht.«
    »Komm schon!«
    »Das macht es leichter, Antoschka. Jeder passt so auf sich auf, wie er kann. Ich halt auf diese Weise.«
    »Was soll ich tun, Semjon?«, fragte ich. Ohne jede Erklärung.
    »Das, was nötig ist.«
    »Und wenn ich nicht das tun will, was nötig ist? Wenn unsere ach so lichte Wahrheit, unser Wächterehrenwort und unsere fabelhaft guten Absichten mir zum Hals raushängen?«
    »Du musst eins verstehen, Anton.« Der Magier biss krachend in eine Gurke. »Du hättest es längst verstehen sollen, aber du hast ja ständig bloß deine Blechkisten im Kopf. Unsere Wahrheit, so groß und licht sie auch sein mag, besteht aus einer Unmenge kleiner Wahrheiten. Und Geser kann noch so klug sein und an Erfahrung haben, wovon wir bei Gott nur träumen können. Obendrein hat er aber auch magisch geheilte Hämorrhoiden, einen Ödipuskomplex und die Angewohnheit, immer wieder alte bewährte Muster auf neue Weise anzuwenden. Das nur als Beispiel, ich will bei ihm keine Erbsen zählen, schließlich ist er der Chef.«
    Er angelte sich eine neue Zigarette, und diesmal wagte ich keinen Einspruch.
    »Aber darum geht es gar nicht, Anton. Du bist noch jung, bist in die Wache eingetreten und hast dich gefreut. Hat sich am Ende doch die ganze Welt in Schwarz und Weiß geteilt! Ein Menschheitstraum war in Erfüllung gegangen, endlich war klar, wer gut und wer schlecht ist. Nur eins musst du begreifen. So ist es nicht. Nicht so. Irgendwann waren wir alle mal eins. Die Dunklen wie die Lichten. Haben in unserer Höhle am Lagerfeuer gesessen, durchs Zwielicht gespäht, auf welcher Weide das Mammut grast, haben beim Singen und beim Tanzen Funken aus den Fingern geschlagen und mit Feuerkugeln andere Stämme geröstet. Und lass uns, damit unser Beispiel möglichst anschaulich ist, zwei Brüder nehmen, zwei Andere. Der, der als Erster ins Zwielicht getreten ist, war in dem Moment vielleicht satt, vielleicht zum ersten Mal verliebt. Bei dem andern war das Gegenteil der Fall. Er hatte sich den Magen mit unreifem Bambus verdorben, die Frau hatte ihn zurückgewiesen, weil sie angeblich Kopfschmerzen hatte und vom Abschaben der Felle müde war. So ging es weiter. Der eine führt die anderen zum Mammut und ist zufrieden. Der andere verlangt ein Stück vom Rüssel und als Dreingabe noch die Häuptlingstochter. So teilten wir uns in Dunkle und Lichte, in Gute und Böse. Einfach, nicht wahr? So bringen wir es auch den kleinen Anderen bei. Und wer hat dir, mein Alter, denn gesagt, dass sich daran etwas geändert hat?«
    Semjon beugte sich so heftig zu mir hinüber, dass der Sessel knirschte. »So war es, so ist es, so wird es sein. Für immer, Antoschka. Ein Ende gibt es nicht. Jetzt sind wir diejenigen, die den, der sich abseilt und in den Kampf zieht und ungefragt Gutes schafft, entkörpern. Und ab ins Zwielicht mit ihm, wenn er das Gleichgewicht stört, ab ins Zwielicht mit dem Psychopathen und Hysteriker. Und was wird morgen sein? In hundert Jahren? In tausend? Wer kann das voraussehen? Du? Ich? Geser?«
    »Also was dann?«
    »Gibt es deine

Weitere Kostenlose Bücher