1 - Wächter der Nacht
Wahrheit, Anton? Sag’s mir, gibt es sie? Bist du von ihr überzeugt? Dann glaube auch an sie, und nicht an meine Wahrheit oder die von Geser. Glaube und kämpfe. Wenn du den Mut dazu hast. Wenn das Herz nicht stottert. Die Freiheit der Dunklen – die ist ja nicht schlecht, weil sie Freiheit von anderen bedeutet. Das ist auch nur die Erklärung für die Kinder. Die Freiheit der Dunklen ist in erster Linie Freiheit von dir selbst, von deinem Gewissen und deiner Seele. Wenn du spürst, dass in deiner Brust nichts mehr schmerzt, dann schlag Alarm. Obwohl es dann eigentlich schon zu spät ist.«
Er verstummte, seine Hand verschwand in der Tüte und brachte eine weitere Flasche Wodka hervor.
»Die zweite«, seufzte er. »Wir sind nämlich immer noch nicht betrunken, das spüre ich. Es wird uns nicht gelingen. Und was Olga und ihre Worte angeht …«
Wie schaffte er es, seine Ohren immer und überall zu haben?
»Sie ist nicht neidisch darauf, dass Swetlana vollenden kann, was sie nicht fertig gebracht hat. Nicht darauf, dass für Sweta noch alles offen ist, während der Zug für Olga, ehrlich gesagt, abgefahren ist. Sie ist neidisch, weil Sweta dich hat und du deine Liebste behalten möchtest. Auch wenn du nichts dafür tun kannst. Geser konnte, aber er wollte nicht. Du kannst es nicht, aber willst. Am Ende läuft das vielleicht aufs Gleiche hinaus. Aber irgendwas bleibt doch hängen. Es zerreißt einem die Seele, wie viel Jahre sie auch zählen mag.«
»Weißt du, worauf Sweta vorbereitet wird?«
»Ja.« Semjon goss die Gläser randvoll mit Wodka.
»Worauf?«
»Darf ich nicht sagen. Ich hab das unterschrieben. Was ich sagen konnte, hab ich gesagt.«
»Semjon …«
»Ich hab dir doch gesagt, ich hab’s unterschrieben. Soll ich mein Hemd ausziehen, damit du das Zeichen des Straffeuers auf meinem Rücken siehst? Ein Wort – und ich würde mit diesem Sessel hier verbrennen und du könntest meine Asche in die Zigarettenschachtel packen. Tut mir Leid, Anton. Versuch es nicht.«
»Danke«, sagte ich. »Lass uns trinken. Vielleicht schaffen wir es doch noch, uns zu besaufen? Ich brauch es.«
»Das seh ich«, pflichtete Semjon mir bei. »Also ran.«
Drei
Ich wachte sehr früh auf. Stille herrschte im Haus, die lebhafte Stille einer Datsche, mit dem Rauschen des Windes, der gegen Morgen endlich kühler ging. Nur, dass ich mich nicht darüber freute. Mein Bett war feucht von Schweiß, mein Kopf glühte. Im Nachbarbett – wir schliefen zu dritt in einem Zimmer – schnarchte Semjon monoton vor sich hin. Auf dem Fußboden schlief Tolik, eingehüllt in eine Decke. Die angebotene Hängematte hatte er mit den Worten abgelehnt, seit er ‘76 an irgendeiner Aktion teilgenommen habe, mache ihm sein Rücken zu schaffen, weshalb er am liebsten hart schlafe.
Die Hände im Nacken, damit ich bei einer zu raschen Bewegung nicht auseinander brach, setzte ich mich im Bett auf. Als mein Blick auf den Nachttisch fiel, entdeckte ich voller Verwunderung zwei Aspirin und eine Flasche Borshomi-Wasser. Welche gute Seele hatte das getan?
Gestern hatten wir zu zweit drei Flaschen Wodka getrunken. Dann war Tolik zu uns gekommen. Danach noch irgendwer, mit Wein. Den ich allerdings nicht trank. So weit reichte mein Verstand noch.
Nachdem ich die Aspirin mit einer halben Flasche Wasser heruntergespült hatte, blieb ich benebelt eine Weile sitzen, um auf die Wirkung der Tabletten zu warten. Der Schmerz ging nicht weg. Das würde ich nicht aushalten.
»Semjon«, rief ich heiser. »Semjon!«
Drei Der Magier öffnete ein Auge. Er schien in prächtigem Zustand. Als ob er nicht weitaus mehr getrunken hätte als ich. Was hundert Jahre mehr Erfahrung doch ausmachen.
»Mein Kopf, befrei mich …«
»Hab kein Beil da«, grummelte der Magier.
»Dann hol eins«, stöhnte ich. »Kannst du mich von dem Schmerz befreien?«
»Haben wir uns freiwillig besoffen, Anton? Oder hat uns jemand gezwungen? Hat es uns Spaß gemacht?«
Er drehte sich auf die andere Seite um.
Ich begriff, dass ich von Semjon keine Hilfe erwarten durfte. Im Grunde hatte er ja Recht, trotzdem ertrug ich das Ganze nicht länger. Mit den Füßen tastete ich nach den Turnschuhen, stieg über den schlafenden Tolik hinweg und ging aus dem Zimmer.
Es gab zwei Gästezimmer, doch die Tür zum andern war verschlossen. Dafür stand am Ende des Korridors die Tür zum Schlafzimmer der Hausherrin offen. Tigerjunges’ Worte über ihre Fähigkeiten als Heilerin fielen mir ein, und ohne zu
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