1 - Wächter der Nacht
nahm mir selbst ein Stück Wurst. Kauend ging ich durchs Wohnzimmer und schaute ins Arbeitszimmer.
Auch hier schliefen welche.
Das Ecksofa war sogar ausgeklappt schmal. Deshalb lagen sie eng beieinander. Ignat in der Mitte, die muskulösen Arme ausgebreitet und süß lächelnd. Lena schmiegte sich links an ihn an, eine Hand in seine dichte blonde Mähne verflochten, die andere über seine Brust gestreckt, sodass sie die zweite Partnerin unseres Don Juans berührte. Swetlana hatte den Kopf irgendwo unter Ignats rasierter Achselhöhle vergraben, ihre Hände hielten die halb herabgerutschte Decke gepackt.
Leise und sehr sorgsam schloss ich die Tür. Das kleine Restaurant wirkte gemütlich. Der Seewolf war, wie schon der Name sagte, für seine Fischgerichte und das freundliche »Schiffsinterieur« berühmt. Außerdem lag es in unmittelbarer Nähe der Metro. Für einen kleinen Mann aus dem Mittelstand, der hin und wieder im Restaurant schlemmen, dabei aber nicht auch noch Geld für ein Taxi ausgeben wollte, stellte das einen nicht unwesentlichen Faktor dar.
Dieser Gast kam mit dem Auto, einem alten, aber völlig intakten »Sechser«. Der geschulte Blick der Kellner buchte ihn übrigens als weitaus zahlungskräftiger ab, als sein Wagen vermuten ließ. Die Ruhe, mit der der Mann den teuren dänischen Wodka trank, sich weder um den Preis noch um eventuelle Probleme mit der Verkehrspolizei scherte, bekräftigte diesen Eindruck nur.
Als der Kellner den bestellten Stör brachte, hob der Mann kurz den Blick. Bisher hatte er nur dagesessen, war mit dem Zahnstocher über die Serviette gefahren und immer mal wieder erstarrt, den Blick auf die Flammen der gläsernen Petroleumlampen gerichtet. Jetzt sah er plötzlich den Kellner an.
Dieser würde niemandem sagen, was er in diesem kurzen Moment zu sehen glaubte. Ihm schien, als blicke er in zwei gleißende Brunnen. Blendend in einem Maße, da das Licht verbrennt und nicht mehr vom Dunkel zu unterscheiden ist.
»Danke«, sagte der Gast.
Der Kellner ging weg, kämpfte gegen den Wunsch an, den Schritt zu beschleunigen. Sagte sich immer wieder: Das war nur das Funkeln der Lampe im gemütlichen Halbdunkel des Restaurants. Nur das Funkeln des Lichts im Dunkel war ihm auf die Augen geschlagen.
Boris Ignatjewitsch saß noch ein Weilchen da und zerbrach Zahnstocher. Der Stör wurde kalt, der Wodka in der Kristallkaraffe warm. Hinter einer Absperrung aus dicken Seilen, nachgebildeten Steuerrädern und einem imitierten Segel feierte eine große Gesellschaft den Geburtstag von jemandem, warf mit Glückwünschen um sich, schimpfte über die Hitze, die Steuern und irgendwelche »falschen« Banditen.
Geser, der Chef der Moskauer Abteilung der Nachtwache, wartete. Die Hunde, die draußen lagen, scheuten zurück, sobald ich auftauchte. Der »Freeze« hatte sie schwer mitgenommen. Der Körper gehorcht nicht, man kann nicht knurren und nicht bellen, der Geifer gefriert ihnen in der Schnauze, die Luft lastet wie die schwere Hand eines Fieberkranken.
Aber die Seele lebt.
Die Hunde hatte es schwer mitgenommen.
Das Tor stand halb offen, ich ging hinaus, blieb kurz stehen, wusste nicht genau, wohin ich gehen und was ich tun sollte.
Spielte das überhaupt noch eine Rolle?
Gekränkt war ich nicht. Es tat nicht einmal weh. Wir waren nie intim gewesen. Mehr noch, ich selbst hatte alles darangesetzt, diese Barriere zwischen uns aufzubauen. Schließlich lebe ich nicht für den Augenblick, sondern will alles, sofort und für immer.
Ich tastete nach dem MD-Player, schaltete die Zufallsauswahl ein. Damit habe ich stets Glück. Ob ich wohl wie Tigerjunges seit langer Zeit das simple elektronische System steuere, ohne es selbst zu bemerken?
Wen trifft die Schuld, dass deine Kraft,
Die dich gen Himmel trug, erschlafft,
Dass du nicht findest, was du suchst,
Und das Gefundene verfluchst?
Und wer ist schuld, dass Tag für Tag
Gelenkt von fremdem Stundenschlag
Das Leben fließt aus dir heraus
Und öd und einsam wird dein Haus?
Der Ton verstummt, das Licht wird fahl,
Und jedes Mal kommt neue Qual,
Und wenn dein Schmerz allmählich nachlässt –
Ist das nächste Unglück nicht mehr weit.
Ich hatte es selbst gewollt. Selbst darum gekämpft. Und durfte jetzt niemandem die Schuld dafür in die Schuhe schieben. Statt gestern den ganzen Abend mit Semjon über die Schwierigkeiten der weltweiten Konfrontation zwischen Gut und Böse zu philosophieren, hätte ich bei Sweta bleiben
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