1 - Wächter der Nacht
niemanden zwingen, gemein zu sein. Brauchst niemanden in den Dreck zu stoßen, denn in den tritt jeder nur von allein. Wie auch immer das Leben ist, dafür gibt es keine Rechtfertigung, ist auch keine in Sicht. Trotzdem sucht und findet man sie, die Rechtfertigungen. Alle Menschen kriegen das beigebracht, und sie alle haben sich als gelehrige Schüler erwiesen.
Und wir sind gewiss nur die Besten der Besten.
Ja, gewiss, ja, natürlich, es gab, gibt und wird immer jemanden geben, der kein Anderer geworden ist, sondern es geschafft hat, ein Mensch zu bleiben. Nur sind es wenige, so wenig. Aber vielleicht haben wir nur Angst, sie genau anzusehen. Angst, das zu sehen, was wir dann entdecken könnten.
»Für euch leben?«, fragte ich. Der Wald schwieg, gab sich vorab mit allen meinen Worten einverstanden.
Warum müssen wir alles opfern? Uns selbst und alle, die wir lieben?
Für diejenigen, die das niemals erfahren und niemals schätzen werden?
Selbst wenn sie es erführen, brächte es uns nichts anderes ein als ein ungläubiges Kopfschütteln und den Ausruf: »Blödmänner! «
Vielleicht sollte man der Menschheit irgendwann mal klar machen, was es heißt, ein Anderer zu sein? Was ein einziger Anderer anrichten kann, wenn er nicht durch den Großen Vertrag gebunden ist, wenn er sich der Kontrolle durch die Wachen entzieht?
Ich musste sogar lächeln, als ich mir dieses Bild vorstellte. Das Bild allgemein, nicht mich darin: Mich würde man schnell stoppen. Wie auch jeden Großen Magier oder jede Große Zauberin, die den Vertrag bricht und beschließt, der Welt die Welt der Anderen zu offenbaren.
Was das für ein Spektakel gäbe!
Keine Außerirdischen, die gleichzeitig im Kreml und im Weißen Haus landeten, würden dergleichen fertig bringen.
Doch nein.
Das ist nicht mein Weg.
Und zwar in erster Linie deshalb nicht, weil mir nicht an der Weltherrschaft oder an allgemeinem Chaos gelegen ist.
Ich will nur eins: dass sich die Frau, die ich liebe, nicht opfern muss. Denn der Weg der Großen bedeutet immer ein Opfer. Die sagenhaften Kräfte, die sie erlangen, verändern sie radikal, bis nichts mehr von ihnen übrig ist.
Wir alle sind keine hundertprozentigen Menschen. Aber zumindest erinnern wir uns noch daran, dass wir einmal Menschen waren. Und können uns noch freuen, können traurig sein, lieben und hassen. Die Großen Magier und Zauberinnen überschreiten die Grenze menschlicher Gefühle. Vermutlich empfinden sie ihre eigenen, die wir aber nicht nachvollziehen können. Selbst Geser, ein Magier außerhalb jeder Kategorie, ist kein Großer. Olga hat es nicht geschafft, eine Große zu werden.
Irgendwas haben sie in den Sand gesetzt. Haben eine grandiose Operation im Kampf gegen das Dunkel nicht fertig gebracht.
Und jetzt sind sie bereit, eine neue Kandidatin an die Front zu werfen.
Um der Menschen willen, die auf Licht und Dunkel pfeifen.
Sie hetzen sie durch alle Kreise, die ein Anderer durchwandern muss. Haben sie bereits auf die dritte Kraftstufe hochgebracht, jetzt muss ihr Bewusstsein nachziehen. In absolut rasantem Tempo.
Wahrscheinlich habe auch ich meinen Platz in diesem Wahnsinnsrennen auf ein unbekanntes Ziel zu. Geser benutzt alles, was ihm gerade unterkommt, mich eingeschlossen. Was auch immer ich getan habe: Vampire gejagt, den Wilden verfolgt, in Olgas Körper mit Sweta gesprochen – ich habe nur nach der Pfeife des Chefs getanzt.
Was ich jetzt auch tue – es ist alles einkalkuliert.
Meine einzige Hoffnung ist, dass selbst Geser nicht alles voraussehen kann.
Dass ich die einzige Tat finde, die seinen Plan zerschlägt. Den großen Plan der Kräfte des Lichts.
Ohne dabei Böses anzurichten. Denn sonst würde mich das Zwielicht erwarten.
Und Swetlana müsste trotzdem den großen Dienst tun.
Ich ertappte mich dabei, dass ich dastand, mein Gesicht gegen den Stamm einer dürren Kiefer gepresst. Dastand und mit der Faust auf den Baum einhämmerte. Aus Wut oder aus Schmerz. Bis ich die Hand senkte, die schon blutete. Worauf der Laut jedoch nicht verstummte. Er kam aus dem Wald, fast von der Stelle her, wo die magische Barriere errichtet war. Ebenso rhythmische Schläge, ein nervöses Klopfen.
Gebückt wie ein Paintballer, der Krieg spielt, rannte ich zwischen den Bäumen hindurch. Ich hatte eine vage Ahnung, was ich sehen würde.
Auf einer kleinen Lichtung sprang ein Tiger. Genauer, eine Tigerin. Ein schwarz-orange gestreiftes Fell glänzte in den Strahlen der aufgehenden Sonne. Die Tigerin sah
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