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1 - Wächter der Nacht

1 - Wächter der Nacht

Titel: 1 - Wächter der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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mittags.
    Semjon ging virtuos mit dem schweren Zweirad um. Ich hätte das niemals gekonnt, selbst wenn ich die in meinem Gedächtnis gespeicherten »extremen Fähigkeiten« aktiviert und die Realitätslinien überprüft hätte. Zwar könnte ich fast genauso schnell fahren, indem ich eine ordentliche Portion meines Kraftvorrats verbrauchte. Aber Semjon fuhr einfach – menschlichen Fahrern gegenüber allein aufgrund seiner weit größeren Erfahrung im Vorteil.
    Selbst bei einer Geschwindigkeit von hundert Stundenkilometern blieb die Luft heiß. Der Wind peitschte uns wie ein raues sengendes Handtuch gegen die Wangen. Als ob wir durch ein Ofenrohr rasten – einen endlosen Asphaltschlauch voller sich ächzend dahinschleppender, bereits in der Sonne gegrillter Autos entlang.
    Dreimal hatte ich den Eindruck, dass wir in irgendeinen Wagen knallten oder in einen plötzlich voller Diensteifer auftauchenden Kilometerstein.
    Natürlich würden wir kaum tödlich verunglücken, die andern würden etwas spüren, kommen, unsere Einzelteile einsammeln – aber angenehm wäre das nicht.
    Wir gelangten ohne Zwischenfälle an unser Ziel. Nach der Ringautobahn setzte Semjon fünfmal Magie ein, allerdings nur, um den Blick der Verkehrspolizisten in eine andere Richtung zu lenken.
    Nach meiner Adresse fragte Semjon nicht, obwohl er noch nie bei mir gewesen war. Er hielt am Hauseingang an und stellte den Motor aus. Die Jugendlichen, die auf dem Kinderspielplatz billiges Bier in sich hineinkippten, verstummten augenblicklich und starrten auf das Motorrad. Wie schön, wenn man im Leben noch solch einfache und klare Träume hat: Bier, Ecstasy in der Disco, eine tolle Freundin und eine Harley unterm Hintern.
    »Hast du es schon lange vorausgesehen?«, fragte Semjon.
    Ich erschauerte. Eigentlich hatte ich mich nicht darüber ausgelassen, dass ich das überhaupt konnte. »Seit einiger Zeit.«
    Semjon nickte. Sah nach oben, zu meinen Fenstern hin. Was ihn auf diese Frage gebracht hatte, sagte er nicht. »Soll ich mit raufkommen?«
    »Hör mal, ich bin kein Mädchen, dass du mich bis vor die Tür bringen musst.«
    »Verwechsel mich nicht mit Ignat«, lachte der Magier. »Gut, Spaß beiseite. Sei vorsichtig.«
    »Wobei?«
    »Bei allem, nehme ich an.«
    Der Motor der Harley heulte auf. Der Magier schüttelte den Kopf. »Irgendwas ist im Gange, Anton. Zieht herauf. Sei vorsichtig.«
    Er schoss los, unter Beifallsrufen der Jugend, fädelte sich geschickt in den schmalen Spalt zwischen einem geparkten Wolga und einem gemächlich dahintuckernden Shiguli ein. Kopfschüttelnd schaute ich ihm nach. Auch ohne jede Sehergabe wusste ich, dass Semjon den ganzen Tag durch Moskau brettern und sich dann irgendwelchen Rockern anschließen würde, die ihn binnen einer Viertelstunde als einen der ihren akzeptieren würden, und dabei entstünden allerlei Legenden über den verrückten alten Motorradfahrer.
    Sei vorsichtig …
    Wobei?
    Und vor allem, wozu?
    Ich ging zur Haustür, hämmerte automatisch den Code ins Schloss ein und rief den Fahrstuhl. Am Morgen hatte ich noch die Datsche genossen, meine Freunde, alles war in Butter gewesen.
    Nichts hatte sich geändert, nur dass ich nicht mehr dort war.
    Es heißt, wenn ein Lichter Magier durchdreht, gehen dem immer »Blitze« voraus, wie bei einem Kranken vor einem epileptischen Anfall. Eine sinnlose Anwendung der Kraft, zum Beispiel Fliegen mit Feuerkugeln zu beschießen oder Feuerholz mit Kampfzaubern zu zerhacken. Ein Streit mit der Liebsten. Unerwartete Entfremdung von den einen Freunden und eine ebenso überraschende Annäherung an die anderen. All das ist bekannt, und wir alle wissen, womit ein solcher Ausbruch der Lichten endet.
    Sei vorsichtig …
    Ich ging zur Wohnungstür und langte nach den Schlüsseln.
    Nur dass die Tür offen stand.
    Meine Eltern hatten Schlüssel. Aber sie wären nie aus Saratow angereist, ohne mir vorher Bescheid zu geben. Außerdem hätte ich ihre Nähe gespürt.
    Ein einfacher menschlicher Bandit könnte nie in meine Wohnung einbrechen, ihn würde das simple Zeichen an der Schwelle aufhalten. Für Andere gibt es ebenfalls einige Hindernisse. Deren Überwindung natürlich nur eine Frage der Kraft ist. Trotzdem hätten die Alarmanlagen funktionieren müssen!
    Ich blieb an der Tür stehen, linste durch den schmalen Spalt zwischen der Tür und dem Pfosten, durch jenen Spalt, der nicht hätte da sein dürfen. Spähte durchs Zwielicht – sah aber nichts.
    Waffen hatte ich keine bei mir.

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