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1 - Wächter der Nacht

1 - Wächter der Nacht

Titel: 1 - Wächter der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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Zeit, nur mit halbem Ohr. Vielleicht ein paar Sätze, von einem Lehrer im Unterricht fallen gelassen, irgendein Gequatsche von Freunden oder ein Märchen, aufgeschnappt in einem der Kurse. Eben über ein Stück Kreide …
    Ich stand vom Sofa auf und hob die Hand. Warf das Amulett auf den Boden.
    »Geser!«, schrie ich durchs Zwielicht. »Geser, antworte mir!«
    Der Schatten hechtete vom Boden auf mich zu, klammerte sich an meinen Körper, saugte ihn auf. Das Licht trübte sich, das Zimmer verschwamm, die Konturen der Möbel zerflossen. Es wurde unerträglich leise. Die Hitze wich. Ich stand da, breitete die Arme aus, und das gierige Zwielicht trank meine Kräfte.
    »Geser, ich rufe dich bei deinem Namen!«
    Graue Nebelfäden waberten durch den Raum. Ich scherte mich einen Dreck darum, wer meinen Schrei womöglich noch hörte.
    »Geser, mein Mentor, ich rufe dich – antworte!«
    In weiter Ferne seufzte ein unsichtbarer Schatten. »Ich höre dich, Anton.«
    »Antworte!«
    »Worauf möchtest du eine Antwort?«
    »Sebulon hat nicht gelogen, oder?«
    »Nein.«
    »Geser, halte ein!«
    »Es ist zu spät, Anton. Alles läuft bereits so, wie es laufen muss. Vertrau mir.«
    »Geser, halte ein!«
    »Du hast kein Recht, irgendetwas zu fordern.«
    »Doch! Wenn wir ein Teil des Lichts sind, wenn wir Gutes bringen, dann habe ich das Recht.«
    Er verstummte. Ich überlegte schon, ob der Chef überhaupt noch einmal mit mir sprechen würde.
    »Gut. Ich erwarte dich in einer Stunde in der Springerbar.«
    »Wo? Wo bitte?«
    »In der Bar der Fallschirmspringer. Metro Turgenjewskaja. Hinter der ehemaligen Hauptpost.«
    Stille senkte sich herab.
    Ich trat einen Schritt zurück, tauchte dann aus dem Zwielicht auf. Ein origineller Ort für ein Treffen. Hatte Geser dort die Tagwache fertig gemacht? Nein, das war ja irgendein Restaurant.
    Egal, die Springerbar, die Rose oder das Chance. Was spielte das für eine Rolle? Ob nun Fallschirmspringer, Yuppies oder Schwule.
    Eine andere Sache musste ich vor dem Treffen mit Geser aber unbedingt noch herausbekommen.
    Ich langte nach meinem Handy und wählte Swetlanas Nummer. Sie ging sofort ran.
    »Hallo«, sagte ich bloß. »Bist du immer noch auf der Datsche?«
    »Nein.« Anscheinend irritierte sie der geschäftliche Ton. »Ich fahre in die Stadt zurück.«
    »Mit wem?«
    Sie zögerte. »Mit Ignat.«
    »Gut«, sagte ich aufrichtig. »Hör mal, weißt du irgendwas über Kreide?«
    »Worüber?« Jetzt war ihre Verwirrung offenkundig.
    »Über die magischen Eigenschaften von Kreide. Hat dir niemand beigebracht, wie man sie in der Magie anwendet?«
    »Nein. Ist mit dir alles in Ordnung, Anton?«
    »Mehr als das.«
    »Dir ist nichts passiert?«
    Typisch Frau: Jede Frage stellen sie in zwei, drei Varianten.
    »Nichts Besonderes.«
    »Willst du …« Sie stockte. »Willst du, dass ich Olga danach frage?«
    »Ist sie auch bei euch?«
    »Ja, wir fahren zu dritt in die Stadt.«
    »Das ist wohl nicht nötig. Danke.«
    »Anton …«
    »Was ist, Sweta?«
    Ich ging zum Schreibtisch, zog die Schublade mit allerlei magischem Plunder heraus. Betrachtete trübe Kristalle, einen ungeschickt geschnitzten Zauberstab – damals wollte ich noch Kampfmagier werden. Dann schob ich die Lade wieder zu.
    »Verzeih mir.«
    »Es gibt nichts, was ich dir verzeihen müsste.«
    »Kann ich vielleicht zu dir kommen?«
    »Seit ihr noch weit weg?«
    »Auf halber Strecke.«
    Ich schüttelte den Kopf. »Das klappt nicht«, meinte ich. »Ich habe einen wichtigen Termin. Ich ruf dich später noch mal an.«
    Ich beendete das Gespräch und lächelte. Die Wahrheit kann in vielen Fällen böse und verlogen sein. Zum Beispiel, wenn man nur die halbe Wahrheit sagt. Sagt, dass man nicht reden möchte, und nicht erklärt, warum.
    Möge es mir gelingen, Gutes durch das Böse zu schaffen. Denn etwas anderes steht mir momentan nicht zu Gebote.
    Vorsichtshalber inspizierte ich noch die Wohnung, sah ins Schlafzimmer, in die Toilette, ins Bad und in die Küche hinein. Soweit ich spüren konnte, hatte mir Sebulon in der Tat keine »Geschenke« dagelassen.
    Wieder im Arbeitszimmer, schloss ich den Laptop an und legte eine Diskette mit einer Datenbank zur Magie ein. Ich gab das Passwort ein. Und klickte das Wort »Kreide« an.
    Ich rechnete eigentlich nicht damit, dass das etwas brachte. Das, was ich wissen wollte, dürfte so schwer zugänglich sein, dass es niemals in einer einfachen Datei auftauchte.
    Es gab drei Einträge zu »Kreide«.
    Im ersten Fall

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