1 - Wächter der Nacht
mein Blut«, erklärte ich. »Ich habe mich aus Versehen geschnitten. Man muss sehr vorsichtig sein, Jegor, wenn man ins Zwielicht eintritt. Das ist ein fremdes Milieu, selbst für uns, die Anderen. Sobald wir in der Zwielicht-Welt sind, müssen wir ständig Kraft abgeben und es mit unserer Lebensenergie füttern. Zumindest ein bisschen. Und wenn man den Prozess nicht unter Kontrolle behält, saugt das Zwielicht alles Leben aus dir heraus. Da kann man nichts gegen machen, das ist der Preis.«
»Ich habe also mehr bezahlt, als ich schuldig war?«
»Viel mehr, als du hattest. Deshalb wärst du beinah für immer in der Zwielicht-Welt geblieben. Das bedeutet nicht den Tod, ist aber womöglich noch schlimmer.«
»Warten Sie, ich helfe Ihnen …« Der Junge setzte sich auf und verzog kurz das Gesicht: Offensichtlich war ihm schwindlig. Ich streckte die Hand aus, und er fing an, mein Handgelenk zu verbinden – ungeschickt, aber eifrig. Die Aura des Jungen hatte sich nicht verändert, nach wie vor changierte sie, verhielt sich neutral. Obwohl der Junge bereits im Zwielicht gewesen war, hatte dieses ihm noch nicht seinen Stempel aufdrücken können.
»Glaubst du mir jetzt, dass ich dein Freund bin?«, fragte ich.
»Ich weiß nicht. Zumindest kein Feind. Oder Sie können mir einfach nichts tun!«
Ich streckte die Hand aus und berührte den Hals des Jungen – sofort schreckte er zurück. Ich machte den Verschluss der Kette auf und nahm sie ihm ab. »Kapiert?«
»Das heißt, Sie sind kein Vampir.« Seine Stimme hatte sich ein wenig gesenkt.
»Stimmt. Aber nicht deshalb, weil ich Knoblauch und Silber anfassen kann. Damit hältst du einen Vampir nicht auf, Jegor.«
»Aber in allen Filmen …«
»Ja, und in allen Filmen gewinnen die guten Kerle gegen die schlechten. Aberglaube ist eine gefährliche Sache, mein Junge, er flößt dir falsche Hoffnungen ein.«
»Gibt es denn berechtigte Hoffnungen?«
»Nein. Das wäre ein Widerspruch in sich.« Ich erhob mich und befühlte den Verband. Alle Achtung, er war fest und ziemlich straff gewickelt. In einer halben Stunde würde ich die Wunde besprechen können, aber noch fehlte mir dazu die Kraft.
Der Junge beobachtete mich vom Sofa aus. Ja, er hatte sich ein wenig beruhigt. Glaubte mir aber immer noch nicht. Der weißen Eule, die mit Unschuldsmiene auf dem Fernseher vor sich hin döste, schenkte er komischerweise nicht die geringste Beachtung. Offenbar hatte Olga doch in sein Bewusstsein eingegriffen. Was mir nur recht sein konnte: Zu erklären, was es mit dieser sprechenden Eule auf sich hatte, wäre höchst schwierig gewesen.
»Hast du was zu essen da?«, fragte ich.
»Was wollen Sie denn?«
»Irgendwas. Tee mit Zucker. Ein Stück Brot. Ich habe nämlich auch viel Kraft verloren.«
»Wir finden schon was. Und wie haben Sie sich verletzt?«
Darauf wollte ich nicht näher eingehen, ihn aber auch nicht anlügen.
»Das hab ich absichtlich gemacht. Es musste sein, um dich aus dem Zwielicht zu holen.«
»Danke. Falls das stimmt.«
Ganz schön frech, das Bürschchen, aber mir gefiel das.
»Keine Ursache. Wenn du im Zwielicht verloren gegangen wärst, hätte mir mein Vorgesetzter den Kopf abgerissen.«
Der Junge schnaubte und stand auf. Trotz allem versuchte er, Abstand zu mir zu halten. »Wie ist Ihr Vorgesetzter?«
»Streng. Was ist, machst du mir einen Tee?«
»Für einen netten Menschen ist einem doch nichts zu schade.« Trotzdem hatte er immer noch Angst. Und die versteckte er hinter einem nassforschen Auftreten.
»Damit das gleich klar ist: Ich bin kein Mensch. Ich bin ein Anderer. Und du bist auch ein Anderer.«
»Und worin besteht der Unterschied?« Jegor musterte mich demonstrativ von oben bis unten. »Im Äußeren bestimmt nicht!«
»Solange ich keinen Tee kriege, werde ich gar nichts sagen. Weißt du nicht, wie man Gäste bewirtet?«
»Ungebetene? Wie sind Sie überhaupt hereingekommen?«
»Durch die Tür. Ich zeig’s dir. Später.«
»Gehen wir.« Offenbar hatte er nun doch beschlossen, mir Tee zu kochen. Ich folgte dem Jungen und rümpfte unwillkürlich die Nase.
»Nur eins, Jegor …«, bat ich, weil ich es nicht länger ertrug. »Wasch dir erst mal den Hals.«
Ohne sich umzudrehen, schüttelte der Junge den Kopf.
»Du musst immerhin zugeben, dass es dumm ist, nur den Hals zu schützen. Der menschliche Körper hat fünf Punkte, an denen ein Vampir ihn beißen kann.«
»Ach ja?«
»Ach ja! Wobei ich natürlich nur den männlichen Körper
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