1 - Wächter der Nacht
meine.«
Selbst sein Nacken wurde knallrot. Ich gab fünf gehäufte Löffel Zucker in den Tee.
»Bereiten Sie mir einen Tee mit zwei Löffeln Zucker …«, sagte ich mit einem Zwinkern zu Jegor. »… das möchte ich vor dem Tod noch kennen lernen.«
Offenbar kannte er diesen Witz nicht.
»Und wie viel soll ich nehmen?«
»Wie viel wiegst du?«
»Weiß nicht.«
Ich taxierte ihn. »Nimm vier. Das hilft gegen die Unterzuckerung.«
Den Hals hatte er sich inzwischen zwar gewaschen, der Knoblauchgestank haftete ihm aber immer noch an.
»Jetzt erklären Sie mir alles!«, verlangte er, während er in gierigen Schlucken seinen Tee trank.
So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Ganz gewiss nicht. Dem Jungen folgen, wenn der Ruf ihn ereilte. Die Vampirin töten oder gefangen nehmen. Und den dankbaren Jungen zum Chef bringen – der würde ihm dann alles erklären.
»Vor langer Zeit …« Ich verschluckte mich am Tee. »Hört sich wie ein Märchen an, nicht? Nur dass es keins ist.«
»Weiter.«
»Gut. Fange ich anders an. Es gibt die Welt der Menschen.« Ich machte eine Kopfbewegung zum Fenster hin, zu dem kleinen Hof und den über die Straße zuckelnden Autos. »Die da. Die um uns herum. Und die meisten können ihre Grenzen nicht überschreiten. So war das schon immer. Doch ab und an tauchen wir auf. Die Anderen.«
»Und die Vampire?«
»Vampire sind auch Andere. Klar, sie sind eine besondere Art von Anderen, ihre Fähigkeiten sind von vornherein festgelegt.«
»Das versteh ich nicht.« Jegor schüttelte den Kopf.
Stimmt schon, als Betreuer tauge ich nichts. Ich kann keine Binsenwahrheiten erklären, mag das auch nicht.
»Zwei Schamanen, die Giftpilze gegessen haben, schlagen ihr Tamburin«, sagte ich. »Vor langer, langer Zeit, noch in der Urgeschichte. Einer der beiden Schamanen führt die Jäger und den Häuptling tüchtig an der Nase herum. Der andere sieht, wie sein Schatten im Licht des Lagerfeuers auf dem Höhlenboden erzittert, wie er Volumen gewinnt und sich zu voller Größe aufrichtet. Er macht einen Schritt und tritt in den Schatten hinein. Tritt ins Zwielicht ein. Und dann kommt das Interessanteste. Verstehst du?«
Jegor schwieg.
»Das Zwielicht verändert den, der es betritt. Es ist eine andere Welt, und sie macht aus Menschen Andere. Was du wirst, hängt nur von dir ab. Das Zwielicht ist ein wilder Fluss, der dich in alle Richtungen gleichermaßen reißt. Du kannst entscheiden, was du in der Zwielicht-Welt sein möchtest. Aber du musst schnell entscheiden, denn du hast nicht viel Zeit.«
Jetzt hatte er es verstanden. Die Pupillen des Jungen verengten sich, er erblasste leicht. Eine gute Stressreaktion, er würde einen guten Fahnder abgeben …
»Was kann ich denn werden?«
»Was du willst. Du hast das noch nicht bestimmt. Und weißt du, auf welche Entscheidung es hinausläuft? Die zwischen Gut und Böse. Zwischen Licht und Dunkel.«
»Und du bist ein Guter?«
»In erster Linie bin ich ein Anderer. Der Unterschied zwischen Gut und Böse besteht in der Einstellung gegenüber den gewöhnlichen Menschen. Wenn du das Licht wählst, setzt du deine Fähigkeiten nicht zu deinem persönlichen Vorteil ein. Wenn du das Dunkel wählst, ist das für dich ganz normal. Doch auch ein schwarzer Magier ist in der Lage, Kranke zu heilen und spurlos Vermisste zu finden. Während ein weißer Magier den Menschen seine Hilfe ebenso gut verweigern kann.«
»Dann begreife ich nicht, worin der Unterschied besteht!«
»Du wirst es begreifen. Dann, wenn du dich auf die eine oder andere Seite schlägst.«
»Das werde ich niemals tun!«
»Dazu ist es bereits zu spät, Jegor. Du bist im Zwielicht gewesen, du veränderst dich bereits. Der Tag wird kommen, da wirst du deine Wahl treffen.«
»Wenn du das Licht gewählt hast …« Jegor stand auf, um sich noch Tee einzugießen. Mir fiel auf, dass er mir zum ersten Mal den Rücken zukehrte, ohne Angst zu haben. »Wer bist du dann? Ein Magier?«
»Der Schüler eines Magiers. Ich arbeite im Büro der Nachtwache. Auch diese Arbeit muss getan werden.«
»Und was kannst du? Zeig mir mal was, damit ich dir glaube!«
Das lief ja wie im Lehrbuch. Er war im Zwielicht gewesen, doch das hatte ihn noch nicht überzeugt. Etwas harmloser Hokuspokus würde ihn weitaus stärker beeindrucken.
»Schau her!«
Ich streckte ihm meine Hand entgegen. Jegor erstarrte und versuchte zu verstehen, was hier vor sich ging. Dann sah er auf die Tasse.
Vom Tee stieg schon kein Dampf mehr auf.
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