1 - Wächter der Nacht
bekannt vorkamen. Nur allzu bekannt.
Alissa und Pjotr. Die Hexe und der Hexer von der Tagwache.
»Jegor!«, sprach Sebulon ihn leise an. »Hast du den Unterschied zwischen uns verstanden? Welcher Seite gibst du den Vorzug?«
Der Junge schwieg. Aber vielleicht nur deshalb, weil die Krallen der Vampirin seine Kehle berührten.
»Haben wir hier irgendein Problem?«, fragte Tigerjunges mit schnurrender Stimme.
»Hm«, bestätigte ich.
»Eure Entscheidung?«, fragte Sebulon nur. Seine Wächter schwiegen, mischten sich nicht in das Geschehen ein.
»Mir gefällt das nicht«, sagte Tigerjunges. Sie bewegte sich kaum auf Sebulon zu, und ihr Schwanz schlug mir unerbittlich gegen das Knie. »Mir gefällt absolut nicht, welchen Standpunkt die Wächter des Tages einnehmen … in dieser Frage.«
Ganz offensichtlich teilte Bär diese Meinung: Wenn die beiden zusammenarbeiteten, sprach immer nur einer. Ich sah Ilja an: Der drehte den Stab in den Fingern und lächelte, ein unfrohes, grüblerisches Lächeln. Wie ein Kind, das anstatt einer Spielzeugpistole ein geladenes Uzi-Gewehr mit zu seinen Freunden geschleppt hatte. Semjon ließ das alles anscheinend völlig kalt. Auf Kleinigkeiten pfiff er. Siebzig Jahre lang übte er sich jetzt schon in Dachrennen.
»Sebulon, sprichst du für die Tagwache?«, fragte ich.
Ein sekundenkurzer Schatten des Zögerns funkelte in den Augen des Dunklen Magiers auf.
Was geht hier vor? Warum hatte Sebulon unseren Stab verlassen, warum hatte er auf die Möglichkeit verzichtet, einen unbekannten Magier von ungeheurer Kraft aufzuspüren und auf die Seite der Tagwache zu ziehen? Auf eine solche Möglichkeit verzichtet man nicht, selbst dann nicht, wenn es um eine Vampirin und einen kleinen Jungen mit einem ungeheuren Potenzial ging. Warum suchte Sebulon den Konflikt?
Und warum, warum um alles zögert er – das sehe ich doch, kein Zweifel! –, im Namen der gesamten Tagwache aufzutreten?
»Ich spreche als Privatperson«, sagte Sebulon.
»Dann haben wir also nur ein paar kleine persönliche Unstimmigkeiten«, stellte ich fest.
»Ja.«
Er wollte die Wachen nicht mit hineinziehen. Jetzt waren wir nur noch Andere, wenn auch im Dienst, wenn auch mit unseren Aufgaben beschäftigt. Doch Sebulon zog es vor, den Konflikt nicht zu einer offiziellen Konfrontation eskalieren zu lassen. Warum? Glaubte er dermaßen an die eigenen Kräfte, oder fürchtete er das Auftauchen des Chefs?
Ich verstand überhaupt nichts mehr.
Aber die Hauptsache: Warum hatte er den Stab verlassen, die Jagd nach dem Hexenmeister aufgegeben, der Swetlana mit dem Fluch belegt hatte? Die Dunklen hatten durchgesetzt, diesen Magier zu bekommen. Und jetzt wollten sie kurzerhand auf ihn verzichten?
Was wusste Sebulon? Was wussten wir nicht?
»Eure armseligen …«, begann der Dunkle Magier. Beenden konnte er den Satz nicht – den nächsten Zug machte das Opfer.
Ich hörte, wie Bär brüllte, verständnislos, verzweifelt brüllte, und drehte mich um.
Jegor, die ganze Zeit in der Rolle der Geisel und gegen die Vampirin gepresst, hatte sich aufgelöst, war verschwunden.
Der Junge war tiefer ins Zwielicht hineingegangen.
Die Vampirin schlug die Hände zusammen, als wollte sie ihn festhalten, womöglich auch umbringen. Ein energisches Klatschen der bekrallten Klauen, das aber bereits keinen lebenden Körper mehr traf. Die Vampirin schlug sich selbst – unter die linke Brust, aufs Herz.
Wie schade, dass sie eine Untote war!
Bär sprang. Einer lebenden Schneewehe gleich stürzte er auf die Stelle, wo eben noch Jegor gestanden hatte, und riss die Vampirin nieder. Unter seiner Masse begrub er den zitternden Körper vollständig – nur die bekrallte Hand lugte noch heraus, die ihm krampfhaft gegen die bepelzte Seite schlug.
Genau in diesem Augenblick riss Ilja den Stab hoch. Das fliederfarbene Licht verblasste ganz leicht, bevor der Stab explodierte und sich in eine weiße Flammensäule verwandelte. Man hatte den Eindruck, aus den Händen des Fahnders schösse ein von einem Leuchtturm abgerissener Scheinwerferstrahl, ein Strahl, blendend und fast mit Händen greifbar. Mit größter Mühe schwang Ilja die Hände, um mit einem Strahl, den man in Moskau seit dem Krieg nicht mehr gesehen hatte, über den grauen Himmel zu kratzen und den gigantischen Knüppel auf Sebulon herabstürzen zu lassen.
Der Dunkle Magier schrie auf.
Es riss ihn nieder und presste ihn aufs Dach, während sich die Lichtsäule Iljas Händen entriss, immer
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