1 - Wächter der Nacht
beweglicher und selbstständiger agierte. Das war kein Lichtstrahl mehr, keine Flammensäule, sondern eine weiße Schlange, die sich ringelte und der silberne Schuppen wuchsen. Das eine Ende des riesigen Körpers wurde platter und platter, verwandelte sich in eine Haube, unter der eine stumpfe Visage mit starren Augen hervorkam, groß wie LKW-Räder. Die Zunge blitzte auf, eine dünne, gespaltene, wie ein Gasbrenner lodernde Zunge.
Ich sprang zur Seite, denn beinah hätte mich der Schwanz erwischt. Die Feuerkobra ringelte sich auf, warf sich auf Sebulon und stieß ruckweise den Kopf in die Schlingen ihres Körpers. Hinter den lodernden Ringen droschen drei Schatten aufeinander ein, die durch die Bewegung zu trüben Streifen zerflossen. Die Sprünge von Tigerjunges, die sich auf die Hexe gestürzt hatte, und den Hexer von der Tagwache konnte ich einfach nicht ausmachen.
Ilja lachte leise auf und zog aus dem Gürtel einen weiteren Stab. Diesmal einen matteren, den er offenbar selbst aufgeladen hatte.
Hatte er also eine Waffe besessen, die speziell für Sebulon ausgelegt war? Hatte der Chef gewusst, mit wem wir zusammenstoßen würden?
Ich spähte übers Dach. Auf den ersten Blick schienen wir alles unter Kontrolle zu haben. Bär hatte die Vampirin in der Zange und schlug wie wild auf sie ein. Ab und an drangen unter ihm erstickte Laute hervor. Tigerjunges hielt die Wächter in Schach und brauchte offenbar keine Hilfe. Die weiße Kobra würgte Sebulon.
Für uns Übrige blieb nichts zu tun. Ilja, der den Stab bereithielt, beobachtete den Tumult, wobei er ganz offenbar überlegte, in welchen Haufen er sich stürzen sollte. Semjon, der das Interesse an der Vampirin verloren und für Sebulon mit seinen Wächtern erst gar keins an den Tag gelegt hatte, schlenderte zum Dachrand und sah nach unten. Ob er mit weiterer Verstärkung seitens der Dunklen rechnete?
Und ich stand wie ein Idiot mit der nutzlosen Pistole in Händen da.
Der Schatten legte sich gleich beim ersten Versuch auf den Boden. Als ich hineintrat, spürte ich, wie die Kälte brannte. Nicht die Kälte, die die Menschen kennen, nicht die, die jeder Andere schon erlebt hat, sondern die Kälte des tiefen Zwielichts. Hier wehte kein Wind mehr, hier verschwanden Schnee und Eis unter den Füßen. Hier wucherte kein blaues Moos. Nur Nebel wallte, dicker, zäher, klumpiger Nebel. Wollte man den Nebel mit Milch vergleichen, müsste man von geronnener Milch sprechen. Feinde wie Freunde – sie alle verwandelten sich in trübe Schatten, die sich kaum bewegten. Nur die mit Sebulon ringende Feuerkobra war nach wie vor schnell und grell – dieser Kampf verlief in allen Schichten des Zwielichts. Als ich mir klar machte, mit wie viel Energie der magische Stab aufgeladen sein musste, wurde mir übel.
Wozu, beim Dunkel und beim Licht? Wozu? Weder die junge Vampirin noch der Junge, dieser Andere, waren solche Anstrengungen wert!
»Jegor!«, schrie ich.
Die Kälte drang mir durch Mark und Bein. In die zweite Schicht des Zwielichts war ich erst zweimal vorgedrungen, einmal im Unterricht, zusammen mit meinem Ausbilder, und einmal gestern, um durch die verschlossene Tür zu gehen. Hier hatte ich keinen Schutz, und mit jeder Sekunde schwanden meine Kräfte.
»Jegor!« Ich ging durch den Nebel. Hinter mir erklangen dumpfe Schläge – die Schlange hämmerte jemanden aufs Dach, den Körper in ihr Maul gezwängt. Ich wusste sogar, wessen Körper …
Da die Zeit hier noch langsamer vergeht, gab es den Hauch einer Chance, dass der Junge das Bewusstsein noch nicht verloren hatte. Ich ging zu der Stelle, an der er in die zweite Schicht des Zwielichts abgetaucht war, und versuchte, etwas zu erkennen, bemerkte aber den Körper am Boden nicht. Ich stolperte, fiel, stützte mich auf, hockte mich hin – und saß Jegor gegenüber.
»Bist du in Ordnung?«, fragte ich überflüssigerweise. Überflüssigerweise, denn er hatte die Augen offen und sah mich an.
»Ja.«
Unsere Stimmen klangen dumpf und grollend. Ganz in der Nähe wogten zwei Schatten: Bär zerfetzte immer noch die Vampirin. Wie lange sie wohl noch durchhielt?
Und wie lange der Junge wohl noch durchhielt.
»Gehen wir«, sagte ich, indem ich die Hand ausstreckte und seine Schulter berührte. »Das hier … ist zu heftig. Wir riskieren es, für immer hier zu bleiben.«
»Na und.«
»Das begreifst du nicht, Jegor! Dieses Leiden! Sich im Zwielicht aufzulösen bedeutet ewiges Leiden. Das kannst du dir einfach nicht
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