Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
1 - Wächter der Nacht

1 - Wächter der Nacht

Titel: 1 - Wächter der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
Vom Netzwerk:
vorstellen, Jegor! Komm!«
    »Wozu?«
    »Um zu leben.«
    »Wozu?«
    Meine Finger wollten sich nicht mehr krümmen. Die Pistole wurde schwer, schien aus Eis gegossen. Mit etwas Glück würde ich noch ein oder zwei Minuten überstehen …
    Ich schaute Jegor in die Augen.
    »Jeder trifft seine eigenen Entscheidungen. Ich gehe jetzt. Ich habe etwas, wofür es sich zu leben lohnt.«
    »Warum willst du mich retten?«, wollte er neugierig wissen. »Braucht eure Wache mich?«
    »Ich glaube nicht, dass du zu unserer Wache kommst …«, sagte ich zu meiner eigenen Überraschung.
    Er lächelte. Zwischen uns glitt langsam ein Schatten hindurch. Semjon. Hatte er etwas bemerkt? War jemandem etwas passiert?
    Und ich saß da, verlor meine letzten Kräfte und versuchte, den ausgeklügelten Selbstmord eines kleinen Anderen zu verhindern – der so oder so verloren war.
    »Ich gehe«, sagte ich. »Verzeih.«
    Der Schatten klammerte sich an mich, fror an den Fingern an und wuchs mir zum Gesicht hinauf. Als ich mich ruckartig von ihm losriss, fauchte das Zwielicht verdrossen, enttäuscht von solch einem Verhalten.
    »Hilf mir«, bat Jegor. Ich konnte seine Stimme kaum noch hören, da ich schon fast herausgegangen war. Er hatte sich in allerletzter Sekunde entschlossen.
    Ich streckte den Arm aus und griff nach seiner Hand. Überall an mir zerrte es, das Zwielicht schubste mich hinaus, während der Nebel um mich herum schmolz. All meine Hilfe war rein symbolisch, das Wesentliche musste der Junge selbst tun.
    Was er auch tat.
    Wir fielen in die obere Schicht des Zwielichts. Der kalte Wind schlug uns ins Gesicht, was jetzt allerdings angenehm war. Die laschen Bewegungen um uns herum verwandelten sich in ein schnelles Handgemenge. Die grauen verwischten Farben kamen uns leuchtend vor.
    Irgendetwas hatte sich in den Sekunden verändert, als wir miteinander gesprochen hatten. Die Vampirin zappelte immer noch unter Bär – das war’s nicht. Der junge Hexer lag auf dem Dach, tot oder bewusstlos, daneben wälzten sich Tigerjunges und die Hexe – das war’s auch nicht.
    Die Schlange!
    Die weiße Kobra war derart angeschwollen, hatte sich derart aufgebläht, dass sie bereits ein Viertel des Dachs einnahm. Es war, als hätte sie jemand mit Luft voll gepumpt und in die Höhe gehoben, vielleicht war sie auch von allein in den tief hängenden Himmel aufgeflogen. Semjon stand in irgendeiner alten Kampfposition neben den ineinander verflochtenen Windungen des Flammenkörpers und ließ von seinen Händen kleine orangefarbene Kugeln gegen die Spule aus weißen Flammen prasseln. Er zielte nicht auf die Kobra, sondern auf jemanden, der unter ihr klemmte, der schon lange hätte tot sein müssen, aber immer noch weiter kämpfte.
    Eine Explosion!
    Ein Wirbel von Licht, Fetzen von Dunkel. Ich wurde rücklings zu Boden geschleudert, im Fallen stürzte ich auf Jegor, riss ihn mit, schaffte es aber, seine Hand zu packen. Tigerjunges und die Hexe enthakten sich und flogen an den Dachrand, wo sie am Gitter wie erstarrt liegen blieben. Bär war von der Vampirin heruntergerissen worden, sie war verletzt und verstümmelt, aber noch am Leben. Semjon schwankte zwar, stand aber noch aufrecht da, abgeschirmt von einer matt leuchtenden Schutzlinse. Der Einzige, der abstürzte, war der bewusstlose Hexer: Er brach durch das verrostete Gitter der Absperrung und fiel wie ein nasser Sack nach unten.
    Nur Ilja stand da wie angewurzelt. Einen Schutz um ihn herum sah ich nicht, doch nach wie vor verfolgte er voller Neugier das Geschehen und presste die Hände fest um den Stab.
    Die Reste der Flammenkobra stoben auf, wirbelten wie leuchtende Wölkchen, die funkenstiebend schmolzen und in Lichtstrahlen zerflossen. Unter diesem Feuerwerk erhob sich Sebulon langsam und breitete die Arme in einer komplizierten magischen Geste aus. Beim Kampf hatte er seine Kleidung eingebüßt, sodass er jetzt völlig nackt dastand. Sein Körper hatte sich verändert, wies nun die klassischen Merkmale eines Dämons auf: statt Haut matte Schuppen, eine falsche Schädelform, anstelle von Haaren ein verfilztes Fell, schmale Augen mit vertikalen Pupillen. Zwischen den Beinen baumelte ein übergroßes Glied, der Steiß mündete in einen kurzen gespaltenen Schwanz.
    »Fort!«, schrie Sebulon. »Fort!«
    Was jetzt wohl in der Menschenwelt los war? Ausbrüche von tödlicher Sehnsucht und grundloser, blinder Freude, Herzattacken, unüberlegte Handlungen, Streitigkeiten zwischen den besten Freunden, Betrug der

Weitere Kostenlose Bücher