10 Ein Tanz mit Drachen (alte Übersetzung)
spielte sie das Lügenspiel mit der Heimatlosen, doch ohne Augen ging es ganz anders. Manchmal standen ihr nur Tonfall und Wortwahl zur Verfügung, dann wieder erlaubte die Heimatlose, ihr die Hände aufs Gesicht zu legen. Zuerst war das Spiel viel, viel schwieriger, beinahe sogar unmöglich … aber als sie sich einem Punkt näherte, an dem sie vor Verzweiflung am liebsten geschrien hätte, wurde alles viel leichter. Sie lernte, die Lügen zu hören und sie in den Muskeln um Mund und Augen zu fühlen.
Viele ihrer alten Pflichten musste sie weiterhin erfüllen, doch während sie herumging, stolperte sie über Möbel, lief gegen Wände, ließ Tabletts fallen und verirrte sich hoffnungslos im Tempel. Einmal wäre sie fast Hals über Kopf die Treppe hinuntergestürzt, aber in einem anderen Leben, als sie das Mädchen namens Arya gewesen war, hatte Syrio Forel ihr beigebracht, wie man das Gleichgewicht hielt, und daher fing sie sich irgendwie gerade noch rechtzeitig.
In manchen Nächten hätte sie sich vielleicht in den Schlaf geweint, wenn sie noch Arry oder Wiesel oder Katz gewesen wäre oder sogar Arya aus dem Hause Stark … aber Niemand hatte keine Tränen. Ohne Augen waren selbst die einfachsten Aufgaben gefährlich. Sie verbrannte sich ein Dutzend Mal, als sie mit Umma in der Küche arbeitete. Einmal, beim Zwiebelschneiden, schnitt sie sich bis auf den Knochen in den Finger. Zweimal fand sie ihr eigenes Zimmer im Keller nicht und musste auf dem Boden vor der Treppe schlafen. Durch die Nischen und Alkoven war der Tempel heimtückisch, sogar nachdem sie gelernt hatte, ihre Ohren zu benutzen; die Art und Weise, wie ihre Schritte von der Decke widerhallten und von den Beinen der dreißig hohen Steingötter als Echo zurückgeworfen wurden, gaben ihr das Gefühl, die Wände würden sich bewegen, und auch das Becken mit dem stillen schwarzen Wasser veränderte die Geräusche seltsam.
»Du hast fünf Sinne«, sagte der Gütige Mann. »Lerne, die anderen vier zu benutzen, dann wirst du weniger Schnitte und Kratzer und Schorf haben.«
Inzwischen spürte sie Luftströmungen mit der Haut. Die Küche fand sie anhand des Geruchs, und auch Männer konnte sie anhand des Dufts von Frauen unterscheiden. Umma und die Diener und Akolythen konnte sie an ihren Schritten erkennen, ehe sie nah genug waren, um sie zu riechen (nicht jedoch die Heimatlose oder den Gütigen Mann, die kaum ein Geräusch erzeugten, es sei denn mit Absicht). Die Kerzen, die im Tempel brannten, hatten ebenfalls einen Geruch; sogar die ohne Duft sonderten vom Docht schwache Rauchfähnchen ab. Wenn man erst einmal gelernt hatte, die Nase zu gebrauchen, war das genauso, als würden die Kerzen schreien.
Auch die Toten hatten ihren Geruch. Eine ihrer Pflichten bestand darin, sie jeden Morgen im Tempel zu finden, wo auch immer sie sich niedergelegt hatten, nachdem sie aus dem Becken getrunken und die Augen geschlossen hatten.
An diesem Morgen fand sie zwei.
Einer war zu Füßen des Fremden gestorben, und über ihm flackerte eine einzige Kerze. Sie spürte die Hitze, und der Duft, den sie verströmte, kitzelte ihr in der Nase. Die Kerze brannte mit einer dunklen, roten Flamme, wie sie wusste; für den, der sehen konnte, war die Leiche in einen rötlichen Schein gehüllt. Ehe sie die Diener rief, damit sie ihn forttrugen, kniete sie sich hin und tastete sein Gesicht ab, zog die Linie seines Kinns nach, strich über Wangen und Nase und berührte sein Haar. Locki ges, dickes Haar. Ein hübsches Gesicht ohne Falten. Er war jung. Sie fragte sich, was ihn dazu gebracht hatte, hier nach der Gabe des Todes zu suchen. Oftmals fanden sterbende Braavosi den Weg ins Haus von Schwarz und Weiß, um ihr Ende zu beschleunigen, aber an diesem Mann konnte sie keine Wunden feststellen.
Bei der zweiten Leiche handelte es sich um eine alte Frau. Sie hatte sich auf einer Traumliege zum Schlafen gelegt, die in einem der versteckten Alkoven stand, wo besondere Kerzen Visionen von geliebten und verlorenen Dingen heraufbeschworen. Ein süßer Tod und ein sanfter dazu, sagte der Gütige Mann gern. Ihre Finger verrieten ihr, dass die alte Frau mit einem Lächeln im Gesicht gestorben war. Sie war noch nicht lange tot. Ihr Körper fühlte sich noch warm an. Ihre Haut ist so weich wie altes dünnes Leder, das tausendmal gefaltet und geknickt
wurde.
Als die Diener eintrafen, um die Leiche zu entfernen, folgte das blinde Mädchen ihnen. Sie ließ sich von ihren Schritten führen, aber als es
Weitere Kostenlose Bücher