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10 Ein Tanz mit Drachen (alte Übersetzung)

10 Ein Tanz mit Drachen (alte Übersetzung)

Titel: 10 Ein Tanz mit Drachen (alte Übersetzung) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R. R. Martin
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nach unten ging, zählte sie. Sie kannte die Anzahl der Stufen aller Treppen im Tempel auswendig. Unter dem Tempel befand sich ein Labyrinth aus Gewölben und Tunneln, wo sich selbst Männer mit zwei guten Augen leicht verirrten, aber das blinde Mädchen hatte jeden Zoll kennen gelernt, und sie hatte ihren Stock, der ihr half, wenn ihre Erinnerung sie im Stich ließ.
    Die Leichen wurden im Gewölbe aufgebahrt. Das blinde Mädchen machte sich im Dunkeln an die Arbeit, zog den Toten Schuhe und Kleidung aus und nahm ihnen auch alle anderen Besitztümer ab, leerte ihre Geldbörsen und zählte all ihre Münzen. Die Münzen mit den Fingern voneinander zu unterscheiden war eines der ersten Dinge gewesen, die ihr die Heimatlose beigebracht hatte, nachdem man ihr die Augen genommen hatte. Die Münzen aus Bravos waren alte Freunde; sie brauchte lediglich über ihre Gesichter zu streichen, um sie zu erkennen. Münzen aus anderen Ländern und Städten waren schwieriger, besonders die aus weiter Ferne. Volantische Ehren waren am weitesten verbreitet, kleine Münzen, kaum größer als ein Heller, mit einer Krone auf der einen und einem Schädel auf der anderen Seite. Münzen aus Lys waren oval und zeigten eine nackte Frau. Auf anderen waren auch Schiffe geprägt, Elefanten oder Ziegen. Die Münzen aus Westeros zeigten auf der Vorderseite den Kopf eines Königs und auf der Rückseite einen Drachen.
    Die alte Frau hatte keinen Geldbeutel und besaß nichts Wertvolles außer einem Ring an einem der dünnen Finger. Bei dem hübschen Mann fand sie vier Golddrachen aus Westeros. Sie strich mit dem Daumen über die, die am stärksten abgerieben waren, und versuchte herauszufinden, welcher König darauf geprägt war, als sie hörte, wie hinter ihr leise die Tür geöffnet wurde.
    »Wer ist da?«, fragte sie.
    »Niemand.« Die Stimme klang tief, barsch, kalt.
    Und sie bewegte sich. Das blinde Mädchen trat zur Seite, griff nach dem Stock und riss ihn hoch, um das Gesicht zu schützen. Holz krachte gegen Holz. Die Wucht des Hiebs hätte ihr beinahe den Stock aus der Hand gerissen. Sie hielt ihn fest, schlug zurück … und fand nur leere Luft, wo der Gegner hätte sein sollen. »Dort nicht«, sagte die Stimme. »Bist du blind?«
    Sie antwortete nicht. Wenn sie redete, würde das nur alle Geräusche übertönen, die er vielleicht verursachte. Er bewegte sich, das wusste sie. Nach links oder nach rechts? Sie sprang nach links, schwang nach rechts und traf nichts. Ein stechender Hieb erwischte sie von hinten an den Beinen. »Bist du taub?« Sie fuhr herum, den Stock in der Linken, schlug wirbelnd zu und verfehlte den Mann. Von links hörte sie Lachen. Sie schlug nach rechts.
    Diesmal traf sie. Ihr Stock prallte von seinem zurück. Der Aufprall war so heftig, dass ihr ein Schmerz den Arm hinaufschoss. »Gut«, sagte die Stimme.
    Das blinde Mädchen wusste nicht, wem die Stimme gehörte. Vermutlich einem der Akolythen. Sie konnte sich an seine Stimme nicht erinnern, wer wusste denn schon, ob die Diener des Vielgesichtigen Gottes ihre Stimmen nicht genauso leicht veränderten wie ihre Gesichter? Außer ihr lebten im Haus von Schwarz und Weiß zwei Diener, drei Akolythen, Umma die Köchin und die beiden Priester, die sie die Heimatlose und den Gütigen Mann nannte. Andere kamen und gingen, manchmal auf geheimen Wegen, aber die Aufgezählten waren die Einzigen, die hier wohnten. Jeder von ihnen konnte ihr Quälgeist sein.
    Das Mädchen huschte zur Seite, ließ den Stock wirbeln, hörte ein Geräusch hinter sich, fuhr herum und schlug in die Luft. Plötzlich befand sich sein Stock zwischen ihren Beinen, als sie sich wieder umdrehen wollte, und kratzte an ihrem Schienbein nach unten. Sie stolperte und ging so heftig auf ein Knie, dass sie sich auf die Zunge biss.
    Dort verharrte sie. Still wie ein Stein. Wo ist er?
    Hinter ihr lachte er. Er schlug ihr geschickt auf ein Ohr, dann auf die Finger, als sie sich erheben wollte. Ihr Stock landete klappernd auf dem Steinboden. Sie zischte vor Wut.
    »Na los. Heb ihn auf. Für heute habe ich dich genug geschlagen.«
    »Niemand schlägt mich.« Das Mädchen krabbelte auf allen vieren herum, bis sie den Stock fand, dann sprang sie auf. Sie war voller Schmutz und hatte blaue Flecken. Im Gewölbe herrschte Stille. Er war fort. Oder nicht? Vielleicht stand er genau neben ihr, das würde sie niemals erfahren. Lausch auf seinen Atem, sagte sie sich, aber sie hörte nichts. Sie nahm sich noch einen Augenblick Zeit,

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