100 - Die gelbe Villa der Selbstmoerder
Menschen sind wie Energiefelder zwischen den Lebenden und der Materie. Manchmal fühlen wir sie – an Orten tragischer Geschehnisse, an Orten gewaltsamen Todes, auf Schlachtfeldern – als leises Grauen, das einen eiskalt ums Herz werden läßt, oder als Besessenheit, oder in unverständlichen Träumen, selbst im Irrsinn.
Ich verstehe die Zusammenhänge nicht. Noch nicht. Aber ich weiß jetzt bereits, daß sich mit dieser Energie viele der Dinge erklären lassen, die uns magisch erscheinen. Warum sollte es nicht Menschen geben, die Wege gefunden haben, sich diese Kräfte zunutze zu machen?
Woher ich das alles weiß?
Von den Geistern, oder besser, von den Verstorbenen. Sie kennen die ganze Wahrheit, aber sie können uns so wenig mitteilen. Die Barriere ist so stark. Aber ich glaube, sie wollen sie uns mitteilen. Es war wie ein Puzzlespiel für mich, die Bruchstücke, die ich aus den Sitzungen mit Klara Milletti erfuhr, zusammenzusetzen.
Aber vielleicht habe ich mich geirrt. Die Geister sind so fremd, die Realität ist so bedeutungslos für sie, und doch sind sie an sie gekettet, gerade durch jene Energie der übermächtigen Gefühle, die unerfüllt geblieben sind.
Ihre Existenz ist eine grausame. Unsichtbare Ketten fesseln sie an die Materie. Sie sind Halbwesen Tote, denen das Leben einen Streich gespielt hat.
Klara und mir war es gelungen, manche der Unglücklichen aus dem Labyrinth zu befreien, zu dem die Realität für sie geworden war. Aber die Welt ist voller Geister.
Und es gibt so wenige von uns, die sie verstehen.
Ich rief Klara an. Sie ist vierundzwanzig, schlank, zerbrechlich und bleich wie eine Puppe aus Milchglas. Das einzig Dunkle an ihr sind die Augen und das schulterlange Haar. Sie weiß, daß ich sie liebe. Sie weiß es seit sechs Jahren, seit ich sie entdeckte, aber sie fürchtet Gefühle. Sie ist mir zugetan, das weiß ich. Manchmal denke ich, sie weiß mehr von dieser Kraft der Gefühle als ich und vermag es nur nicht zu erklären. Als Medium ist sie den Geistern näher. Sie ergreifen von ihr Besitz, benützen ihre Stimme, ihre Sinne, ihr Gehirn. Es mag viel in ihr schlummern, vielleicht unbewußt, das einen Riegel vor ihre Gefühle schiebt.
Es war, als ob sie immer mehr verblaßte, vor meinen Augen, und ich wußte kein Mittel, sie zu halten.
Ihre Eltern lebten in Venedig. Ihre Mutter war Deutsche, von ihr hatte sie den Vornamen. Sie hatten von den ungewöhnlichen Fähigkeiten ihrer Tochter gewußt und schließlich nach einigem Zögern zugestimmt, daß Klara mit mir zusammenarbeitete. Sie sahen, daß wir uns verstanden, und es war ihnen auch angenehm, daß ich mich um die mediale Veranlagung des Mädchens kümmerte, die ihnen unheimlich war. Sie waren einfache Leute, abergläubisch und tief religiös, und sie waren rasch mit dem Teufel zur Hand. Sie waren puritanisch. Vielleicht trug auch ihre Erziehung dazu bei, daß Klara so ohne Leidenschaft war und ohne Feuer.
Ich ließ eine ganze Weile läuten, aber niemand hob ab.
Sie wußte bereits von den Gehrdorfer Geschehnissen. Ich hatte sie nach meiner Rückkehr informiert und ihr wie immer freie Entscheidung gelassen. Bereitwilligkeit war wichtig. Schließlich war es ihr Körper, den sie mehr oder weniger verlieh.
Aber sie stimmte sofort zu, obwohl ich ihr klarmachte, daß es gefährlich werden könnte.
Jetzt aber schien es mir fast zu gefährlich für sie. Man hatte mich bereits bedroht. So neugierig ich auch war, ich hatte kein Recht, das Mädchen in Gefahr zu bringen.
Mißmutig legte ich auf und begann unter dem Schrank nach dem Schlüsselbund zu tasten. Als ich ihn hatte, erwartete ich, daß dieser Kopfschmerz wieder beginnen würde. Aber nichts geschah. Nachdenklich wickelte ich ihn in ein Tuch und steckte ihn in meine Jackentasche. Ich würde ihn nicht mehr in die Finger nehmen, bis wir vor dem Haus standen.
Mir begann die ganze Sache immer weniger zu gefallen. Wenn ich nicht so verdammt neugierig wäre, hätte ich alles abgeblasen.
Vielleicht war es auch die Chance, den Vorhang ein wenig zu lüften, der mich reizte und die Größe der Gefahr nicht sehen ließ. Diese fast greifbare Atmosphäre der Abneigung, der Verschlossenheit, des Bösen schien mir so vielversprechend.
Man nannte mich einen Geister Jäger, weil ich in Spukhäuser ging und mit den Geistern Kontakt aufnahm. Aber was ich wirklich erkunden wollte, war die Kraft, die die meisten seit Jahrhunderten tot glaubten – die Kraft der Magier und Scharlatane, die
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