100 - Leichengeflüster
dunkel wie ein Schatten. »Ich weiß, was in dir vorgeht, was
dich quält. Ich verstehe dich ... Es wird genau so passieren, wie du es haben
möchtest .«
»Wer bist du ?« fragte Jeff wie in Trance.
»Ein Teil von
dir.«
»Wer hat dich
geschickt? Woher kennst du meine Pläne ?«
»Rha-Ta-N’my,
die Göttin der Dämonen, ist meine Herrin. Sie kennt alle Wünsche. Also auch
deine. Sie hat mich ausgeschickt, mit dir Kontakt aufzunehmen. Rha-Ta-N’my ist
auch dir nicht fremd. Und Rha-Ta-N’my bleibt denen, die treu sind - nicht
minder treu .«
Erregung
packte ihn.
Die
Erinnerung war plötzlich wieder da.
Er sah sich
als Halbwüchsigen in der Bodenkammer des alten Hauses herumstöbern. Ein Haus
auf dem Land. Es gehörte seinem Großvater.
Knisterndes
Gebälk, ächzende Treppenstufen, das Heulen des Windes unter dem Dach . ..
gespenstische Nächte, in denen er sich unter der Decke verkroch und doch den
seltsamen Schauer genoß, den die Atmosphäre verbreitete.
Bei seiner
Suche nach alten Dingen stieß er auf ein ledergebundenes Buch, in dem die
Seiten mit der Hand geschrieben waren. Jemand hatte sich die Mühe gemacht und
einen Text Wort für Wort abgeschrieben. In einer schlecht leserlichen,
verschnörkelten Schrift. Er nannte das damals »mein Zauberbuch«. Es waren
seltsame Schilderungen, ihm unverständliche Formeln, mit denen man angeblich
unsichtbare Wesen beschwören und sich untertan machen konnte. Wesen, die unter
der Herrschaft Rha-Ta-N’mys standen und ihre Kraft von ihr bezogen.
Er entdeckte
einen Text, der ihn von dieser Stunde an nicht mehr losließ.
Unter der
Überschrift »Wie schade ich meinen Feinden ?« standen
ausführliche Formeln, die man nur in einer bestimmten Stunde zu sprechen und
von Herzen zu wünschen brauchte.
Sein
Herzenswunsch war es, Dick Muller- zu schaden, dieses Großmaul aus der
Nachbarschaft. Muller war ein widerlicher Kerl. Er war der stärkste in der
Straße, schlug und erpreßte die anderen. Keiner kam gegen ihn an.
Der Knabe
Jeff ließ mitten in der Nacht den Wecker rasseln, um zur vorgeschriebenen
Stunde die Formel zu sprechen. Sein Großvater wurde eines Nachts auf diesen
Umstand aufmerksam, lauschte an der Tür, entdeckte das unheilvolle Buch und
nahm es ihm ab. Er verbrannte es am nächsten Tag, ohne ein weiteres Wort
darüber zu verlieren. Als das Buch zu Asche zerfiel, lösten sich wie
aufgescheuchte Vögel bizarre Schatten, die in alle Himmelsrichtungen
davonflogen. Jeff, der die Verbrennungsaktion heimlich von seinem Zimmer aus
beobachtete, glaubte seltsam wimmernde Stimmen zu hören, die aus dem Feuer
kamen.
Heimlich setzte
er seine Beschwörung fort. Den Text hatte er so oft gelesen, daß er sich ihm
Wort für Wort eingeprägt hatte.
Er wünschte
sich, daß Dick Muller einen Unfall hatte, der ihn einfürallemal unfähig machte,
die anderen Jugendlichen in der Straße weiter unter Druck zu setzen. Der böse
Muller sollte schwach werden wie ein hilfloses Baby...
In der
siebten Nacht nach den Beschwörungen hatte Jeff einen merkwürdigen Traum.
Er hatte das
Gefühl wach zu liegen und plötzlich eine dunkle Gestalt sein Zimmer betreten zu
sehen. Diese dunkle Gestalt - war er selbst, und sie versprach ihm, seinen
Wunsch zu erfüllen.
Am nächsten
Morgen hatte er den »Traum« vergessen, und er glaubte auch mit einem Mal nicht
mehr daran, daß seine Beschwörungen etwas nützten. Außerdem war Dick Muller zur
Zeit der Beschwörungen mehr als zweihundert Meilen von dem Ort entfernt, in dem
Jeff seine Ferien verbrachte.
Da schrieb
ihm eines Tages später seine Mutter einen Brief, in dem sie ihm schilderte, daß
Dick Muller bei dem Versuch, eine Mauer zu überklettern, heruntergestürzt sei
und sich schwer verletzt habe. Mit dem Krankenwagen hätte man ihn ins
Krankenhaus fahren müssen.
Damals
brachte Jeff diesen Unfall nicht mit seinen Aktivitäten Muller gegenüber in
Verbindung. Es schien, als hätte er jene sieben Nächte der Beschwörung aus
seinem Gedächtnis gestrichen.
Nach den
Ferien zu Hause angekommen, lag Dick Muller noch immer im Krankenhaus. Die
anderen Jungen, denen er stets so massiv zugesetzt hatte, freuten sich darüber.
Dann war eines Tages zu hören, daß Dick Muller gestorben sei. Er sei sehr
schwach geworden, hätte nichts mehr essen und trinken können. Durch den Sturz
von der Mauer sei dies alles ausgelöst worden. Das lag nun siebenundzwanzig
Jahre zurück.
Damals hatte
er sich keine Gedanken über die Umstände gemacht - heute
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