100 Prozent Anders
Wir mussten wieder lachen.
Wir unterhielten uns den restlichen Nachmittag, ohne auf die Uhr zu blicken. Sie erzählte mir, dass sie ein paar Wochen vor dem Abitur die Schule geschmissen habe und in Süddeutschland eine Lehre auf einer Hotelfachschule machen wolle (dazu kam es jedoch nie). Sie erzählte auch, dass ihre Mutter schwer erkrankt sei und die Ärzte mit dem Schlimmsten rechnen würden. Ein trauriges Thema also.
Ich fragte sie nach Steffen, denn irgendwie fühlte ich mich ihm gegenüber nicht wohl. Steffen war mein Freund. Er war es, der mir Nora vorgestellt hatte, und nun saß ich mit Nora im Café und tauschte Privates aus. Nora gab mir eindeutig zu verstehen, dass sie Steffen zwar möge, aber mehr sei da nicht, und mehr würde zwischen ihr und ihm auch niemals laufen.
Mmmmh, das war ein klares Statement. Wie war es denn bei mir? Ich wollte Steffen nicht brüskieren und mit seiner „Herzensdame“ ausgehen oder sogar flirten. Für mich zählte der Ehrenkodex unter Männern: Niemals mit der Freundin eines Freundes etwas anfangen! Aber Nora war nicht seine Freundin, und sie selbst hatte mir gerade klipp und klar erklärt, dass sie an einer Beziehung mit Steffen nicht interessiert war.
Fortan verbrachten Nora und ich fast jede freie Minute zusammen.
***
Recht schnell kam der Tag, an dem Nora mich ihrer Familie vorstellen wollte. Ich hatte keine Ahnung, was mich erwarten würde, machte mir aber auch keine besonderen Gedanken um das Aufeinandertreffen. Was sollte schon passieren? Ich würde Noras Mutter, vielleicht noch ihre Schwestern kennenlernen und mich von meiner besten Seite zeigen: „Hallo, mein Name ist Bernd. Nett, Sie kennenzulernen, Frau Balling.“ Ich war ja nun kein Bauer, der zum ersten Mal Kontakt mit dem Bildungsbürgertum aufnahm. Meine Eltern waren stets anständige Leute gewesen, die es mit harter Arbeit zu etwas Wohlstand gebracht hatten. Und auf eine gute Kinderstube hatte meine Mutter ohnehin stets großen Wert gelegt.
Auf Grund ihrer schweren Krankheit wohnte Noras Mutter zeitweise im Haus von Noras ältester Schwester Dolores und deren Mann Bert. Dort sollte das „zwanglose“ Treffen denn auch stattfinden. Ein Plauderstündchen am Nachmittag, so hatte Nora es genannt. Ich verstand deshalb nicht ganz die Aufregung, die Nora an den Tag legte. „Ich hoffe, Mami geht es heute gut. Bitte beantworte all ihre Fragen. Sei einfach ganz normal.“ So ging es stundenlang.
In mir arbeitete es. Ja, wie soll ich denn sonst sein? Unnormal? Welche Fragen will man mir stellen? Egal. Mit Nora auf dem Beifahrersitz fuhr ich eines Nachmittags im April zum Haus ihrer Schwester und lernte einen Teil der Familie kennen.
Auch mit einem Abstand von mittlerweile über 25 Jahren sind meine Ex-Schwägerin und ihr Mann für mich der Inbegriff von Understatement. Man lebt für sich und nicht für die Außenwirkung. Man fährt nicht Porsche, um es den „anderen“ zu zeigen, man fährt Porsche, weil man es mag. Man trägt keine teuren Cashmere-Pullover, um den Mitmenschen eine lange Nase zu machen, man trägt sie, weil es Qualität bedeutet und man sich darin wohlfühlt. Nichts wird gekauft, um damit anzugeben, sondern nur für das eigene Wohlbefinden.
Ich habe von beiden, von Dolores und Bert, viel gelernt. Ihr Lebensmotto ist auch meines geworden: Geld, das man nur ausgibt, um anderen Menschen zu imponieren, ist verlorenes Geld. Geld, das man für sich ausgibt, ist immer ein Gewinn.
Kultur und Tradition wurde in Noras Familie großgeschrieben. Familienfeste wurden stets zusammen gefeiert. Hatte jemand Geburtstag, trafen wir uns am Abend vorher und tranken um Mitternacht gemeinsam ein Glas Champagner auf das Geburtstagskind. Egal, auf welchen Wochentag das Fest fiel. Auf das Glas Champagner wurde großen Wert gelegt. Auch wenn man nur eine halbe Stunde bleiben konnte, weil morgens um sechs Uhr schon wieder der Wecker klingelte. So viel Zeit musste sein!
Ich kam nun also mit Nora zum Haus ihrer Schwester. Ein Haus in guter Wohngegend samt angebautem Trakt mit Mietwohnungen. Architektonisch gesehen nicht Norman Foster, aber gepflegt und Understatement. Ich könnte jetzt übergehen zu einer Beschreibung, wie sie in Architectural Digest oder anderen Magazinen zu finden sind. Allerdings steht es mir nicht zu, meine Eindrücke zu den privaten Räumlichkeiten meiner Ex-Schwägerin und meines Ex-Schwagers zu veröffentlichen. Nur so viel: Sie wohnten stilvoll auf höchstem Niveau, und ich war beim
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