100 Prozent Anders
Nora besaß eines der über 30 Appartements in diesem Haus. Ihre beiden Schwestern lebten mit ihren Männern auch in Koblenz und waren selbständige Geschäftsfrauen. Hin und wieder half Nora ihrer Mutter bei den Vermietungsgeschäften. Neben diesem Appartementhaus besaß die Familie noch weitere Immobilien und Wohnungen, die alle verwaltet werden wollten. Nora und ihre Familie waren rechtschaffene Kaufleute und gehörten zur sogenannten gehobenen Gesellschaft unserer Stadt.
Nora war sich ihrer gesellschaftlichen Stellung bewusst, lebte dementsprechend und war das, was man gerne als Paradiesvogel bezeichnet. Sie liebte es, die neuesten Kosmetiktrends auszuprobieren und kleidete sich immer auffallender und individueller, als es gerade Mode war.
Um es auf den Punkt zu bringen: Nora war total verrückt.
In ihrer Familie redete man nicht über Geld. Geld war einfach da. Zu ihrem 18. Geburtstag hatte sie von ihrer Mutter eine goldfarbene Rolex geschenkt bekommen. Den Brillantkranz für das Ziffernblatt kaufte sie sich dann noch selbst hinzu. Sie bekam auch später einen nagelneuen Golf vor die Tür gestellt. Aber anstatt sich zu freuen, war Nora zutiefst enttäuscht. Sie hatte mindestens einen Golf GTI erwartet. Als ihre Mutter vier Wochen später zur Kur ging, fuhr Nora zum Autohändler, gab ihren Golf in Zahlung und bestellte sich einen Golf GTI. Die Differenzsumme bezahlte sie mit der Kreditkarte ihrer Mutter. Für Nora war das in etwa so, als würde sie einen roten Pullover gegen einen grünen Pullover umtauschen. Sie hatte auch nie Angst, dass ihre Mutter die kostspieligen Launen eines Tages satthaben könnte. Sie sagte damals: „Dann gibt es eben zwei Tage Ärger. Aber mein GTI hält länger.“
Irgendwann sah Nora in der Illustrierten Bunte ein Foto des Waffenhändlers Kashoggi und seiner Tochter, die fünf Trinity-Armreifen von Cartier trug. Das fand Nora so was von toll. Am nächsten Tag meinte sie zu mir: „Ich möchte sechs Trinity-Armreifen haben.“ Also rief sie bei sämtlichen Cartier-Läden in Deutschland an, um sich die Armreifen zu bestellen. Leider gab es die aber nicht in Deutschland, sondern nur in Zürich, in der Schweiz. Was machte also meine Nora? Sie buchte sich einen Lufthansa-First-Class-Flug (das gab es damals noch innerhalb Europas) und flog einen Tag später nach Zürich. Dort kaufte sie sich für 120 000 Mark ihre sechs Armreifen, und abends flog sie wieder nach Frankfurt zurück. Als ich sie am Flughafen abholte, hielt sie mir voller Stolz ihren Arm unter die Nase und sagte: „Hier sind sie!“
Ebenso verrückt war Nora, wenn es um Kosmetikprodukte ging. Der neueste Lidschatten von Chanel oder ein ganz bestimmter Augenkajalstift – Nora kaufte ein und dasselbe Produkt gerne gleich zehnfach. Ihr Argument lautete stets: „Ich habe mich nun mal an daran gewöhnt. Stell dir vor, die nehmen die Farbe vom Markt. Deshalb kaufe ich lieber gleich auf Vorrat ein.“ Eine einzige Frau schafft es niemals, so viel Kosmetikzeug aufzubrauchen, bevor es ranzig wird, gab ich zu bedenken. Außerdem kann es ja auch mal vorkommen, dass sie Lust auf Veränderung hat, auf ein neues Parfüm oder eine andere Lippenstiftfarbe. Aber meine sämtlichen Argumente halfen nichts. Nora shoppte weiter wie eine Irre. Bei Kleidung war es leider kein bisschen anders. Gefiel ihr ein Rock, kaufte sie das Modell gleich in drei verschiedenen Farben. Ihre Schränke platzten beinahe aus allen Nähten. Viele Stücke hat sie nie getragen. Sie hingen jahrelang mit Preisetikett im Schrank, bevor Nora die Sachen dann an ihre Freundinnen verschenkte.
Kurz nachdem ich Nora an dem Abend in der Diskothek kennengelernt hatte, trat ich auf der Verbrauchermesse in Koblenz auf. Ich sang meine aktuelle Single, außerdem zwei, drei Songs von bekannten Interpreten. Während ich auf der Bühne stand, entdeckte ich im Publikum Nora. Sie stand inmitten der typischen Messebesucher, die sich ihre Plastiktüten mit Prospektmaterial füllten und Currywurst oder Obsttorte in sich hineinstopften – Nora wirkte definitiv wie ein Mensch aus einer anderen Welt. Nach meinem Auftritt kam sie zu mir. Von meiner Performance zeigte sie sich überrascht. „Ich wusste gar nicht, dass du so professionell bist“, sagte sie und lächelte mich an. „Ich wusste gar nicht, dass du kommst“, gab ich zurück. Wir lachten! „Was machst du jetzt noch? Hast du Lust auf einen Kaffee“, fragte ich sie. „Gerne“, antwortete sie, „aber bitte nicht hier.“
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