100 Prozent Anders
Essen traf und zu späterer Stunde am Tisch oder an der Bar Gespräche über das Leben im Allgemeinen führte. Wir, das waren Guido, Guidos Mutter Rosi, meine enge Freundin Jutta und ich. Wir hatten jeden Abend denselben Tisch reserviert. Mit Jürgen, dem Besitzer des Bistros, vereinbarten wir, dass er den Tisch erst anderweitig vergeben dürfe, wenn keiner von uns bis um 21 Uhr im Lokal sei.
Über Rosi müsste ich eigentlich ein eigenes Kapital schreiben. Ich kenne Rosi ebenso lange wie Guido, und sie wurde allmählich zu einer der wichtigsten Personen in meinem Leben.
Egal, wie oder wo das Schicksal zuschlägt, Rosi weiß Rat. Ihre Lebenserfahrung scheint unerschöpflich, und abgesehen davon hat sie einen köstlichen Humor. Auch heute treffen wir uns regelmäßig und telefonieren, so oft es geht. Wir feiern Feste zusammen und weinen zusammen, wenn es Not tut.
Rosi und ich saßen also mal wieder abends im „Faustus“, und ich kannte alle weiblichen Personen, die sich im Lokal aufhielten, zumindest vom Sehen. Bis auf eine. Claudia! Ein fremdes Gesicht, und dazu noch ein verdammt hübsches.
„Rosi“, fragte ich, „wer ist das denn?“ – „Wo?“ – „Na, dort hinten, am Tisch mit der Mädelsgruppe?“ – „Ja, wo denn, Bernie? Wen meinst du denn?“ – „Mensch, Rosi, die Blonde, die hab ich hier noch nie gesehen.“ – „Tja, komisch, ich auch nicht“, sagte Rosi, ohne mich anzusehen, denn ihre Augen taxierten bereits die blonde Unbekannte.
Claudia war mit ihren Freundinnen gekommen und wollte einen gemütlichen Abend verbringen. Ich sah immer wieder zu ihr hinüber, aber sie erwiderte meinen Blick nicht. Plötzlich stand Rosi auf und steuerte geradewegs auf Claudia zu. Rosi sprach sie an, aber da der Tisch zu weit weg war und der Geräuschpegel im Lokal zu hoch, konnte ich kein Wort verstehen. Ich war sprachlos! Rosi konnte doch nicht einfach so auf die Blondine zugehen. Nach ein paar Sätzen konnte ich an ihrer Gestik erkennen, dass sie sich verabschiedete und in Richtung Toilette ging. Ich konnte Rosis Rückkehr kaum erwarten. „Was machst du da?“, fragte ich sie entsetzt. „Na, ich wollte mit ihr ins Gespräch kommen“, antwortete sie. „Und was, bitte, hast du zu ihr gesagt?“ „Ich hab sie gefragt, ob sie es ist, die mein Auto zugeparkt hat?“ „Aber Rosi, du hast doch gar kein Auto“, sagte ich entgeistert. „Nein, aber sie hat einen schönen Mund!“
Oh, Mann! Rosi konnte man wirklich nicht alleine lassen. „Übrigens“, sagte sie, „auf dem Weg zur Toilette habe ich auch Jürgen (den Restaurantbesitzer) und ein paar Bekannte gefragt, ob ihnen die Blonde bekannt ist.“ „ROSI!!! Das ist nicht dein Ernst!“ „Doch, denn irgendwie musst du sie ja kennenlernen.“ In dem Moment drehte ich mich um und sah, wie Jürgen an Claudias Tisch stand, mit einer Rose in der Hand. Was war das jetzt? Zu später Stunde klärte sich alles auf, und es war fürchterlich peinlich.
Ich ging zu Claudia rüber und sprach sie an. „Bist du immer so schüchtern“, fragte sie mich. „Ich, wieso?“ „Na ja, wenn du andere zu mir rüberschickst und mir Rosen bringen lässt“, lächelte sie. „Äh, ich, ich …“, stotterte ich, „… ich bin gar nicht schüchtern. Ich wusste von alldem nichts.“ Jetzt mussten wir beide lachen.
Claudia erzählte mir, dass sie noch in einer Beziehung sei und dass sie selten in dieses Lokal komme. Die Info über ihren Freund gab mir natürlich einen innerlichen Dämpfer, aber wir tauschten dennoch Telefonnummern aus und verabredeten uns wieder im „Faustus“. Es kam dann, wie es kommen musste, und wir verbrachten mehr und mehr Zeit miteinander. Ich blieb aber anständig und hielt mich mit Annäherungsversuchen komplett zurück. Claudia wollte immer wieder aufs Neue ihre alte Beziehung retten. Und mir war klar, würde ich jetzt mit ihr eine Affäre anfangen, hätte ich sie für immer verloren. Sie musste zuerst mit ihrer alten Beziehung abgeschlossen haben, bevor sie eine neue Beziehung einging.
Am Ende wurden wir doch ein Paar.
Rosi war daran nicht unschuldig. Rosi ist, wie schon bemerkt, die engste Bezugsperson, die ich neben meinen Eltern und Claudia habe. Eine Frau, die die Höhen und Tiefen des Lebens kennt, aber alles immer mit Herz und Rückgrat gemeistert hat. Sie besitzt die unglaubliche Gabe, jede auch noch so verfahrene Situation richtig einzuschätzen. Rosi weiß auf alles Rat und ist der lebende Beweis dafür, dass soziale Intelligenz
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