100 Prozent Anders
also eine Mischung aus heterosexuell und weiblich. Ich hatte lange, lockige Haare, trug Lipgloss und war immer brutzelbraun gebrannt. Es war aber einfach die Zeit. Wenn ich heute Bill Kaulitz von der Gruppe Tokio Hotel sehe, denke ich oft an meine verrückte Zeit zurück. Wobei ich gegen den guten Bill geradezu spießig aufgetreten bin.
Es kam auch immer wieder vor, dass ich von Männern angemacht wurde. Okay, meine Bewegungen und mein Auftreten waren sicherlich nicht machomäßig. Aber in Deutschland heißt es ja schon, dass mit einem Mann etwas nicht stimmen kann, wenn er sich nicht regelmäßig prügelt, volltrunken ist und mehr als drei Sätze grammatikalisch fehlerfrei über die Lippen bringt.
Ich veränderte also mein Aussehen. Ich zeigte mich für eine Woche weder Eltern noch Freunden. Ich ließ mir einen Dreitagebart wachsen und zähmte meine langen Haare mit einem Zopf. Die Seidenhosen und Wallewalle-Mäntel kamen weg. Jeans und schicke Blazer waren fortan meine modischen Favoriten. Dass meine „Verwandlung“ funktioniert hatte, zeigte sich nach einer geradezu perfekten Begegnung. Ich lief durch Koblenz und erblickte meinen Vater auf der anderen Straßenseite. Ich winkte ihm freudig zu, doch er erkannte mich nicht. Seinen eigenen Sohn! Wie geil ist das denn? Ich ging auf ihn zu, und als ich direkt vor ihm stand, sagte er: „Bernd, du bist es. Ich hab dich nicht erkannt.“
Leider aber änderte sich rein gar nichts an der Wahrnehmung von Thomas Anders in den Medien. Zudem hatte sich der Musikgeschmack verändert. Melodie war out. Harte Dance Beats waren in. Die Band Snap feierte Erfolge ohne Ende. Das war aber nicht meine Welt. Meine Stimme brauchte einen Melodiebogen. Keinen Rap in den Versen oder verzerrte Stimmen im Refrain. Ich wollte und musste mich umorientieren. Aber was tat jemand, der eigentlich seit der Schule nie etwas anderes gemacht hatte als Musik?
Hier kam nun mein bester Freund Guido ins Spiel. Er besaß schon immer ein Faible für Musik und Fotografie. Diese Leidenschaft hatte er auch zu seinem Beruf gemacht. Guido ist bis heute einer der bedeutendsten Konzertfotografen der Welt. Von AC/DC über Michael Jackson, Sting, den Bee Gees, Robbie Williams, Tina Turner bis zu Take That – und ich könnte noch hundert weitere Namen nennen – hatte er sie alle vor der Kamera. Abgesehen von seinem fotografischen Talent ist er aber auch ein cleverer Businessmann, der mit seinen Firmen eine hervorragende Wertschöpfungskette mit Blick auf seine Bilder geschaffen hat. Guido war damals schon beruflich nicht zu bremsen. Alles, was er tat, wurde ein Erfolg. Mit seiner damaligen Freundin wohnte er in einer Traumvilla in der Nähe von Koblenz; dort hatte ich mir ein Zimmer als Büro gemietet.
Wir haben nie darüber gesprochen, aber ich glaube, er machte sich damals Sorgen, was meine Zukunft betraf.
Es lief einfach nicht rund bei mir. Die Alben verkauften sich in Deutschland schleppend, die dominierenden Musiktrends waren für mich nicht umsetzbar, und die Ehe mit Nora ging auch immer mehr in die Brüche. Guido unterstützte mich, wo es nur ging. Er hatte immer wieder neue Ideen und baute mich auf, wenn mal wieder schlechte Nachrichten kamen.
Guido und seine Freundin hatten beschlossen zu heiraten. Sie wollten ein riesiges Fest feiern, mitten im Wald. Ich bot ihm gerne meine Hilfe bei der Organisation an, aber er lehnte dankend ab. Es sei schließlich seine Hochzeit, und dieses wichtige Ereignis wolle er mit seiner zukünftigen Frau alleine organisieren. Mir sollte es recht sein. Wer Guido jedoch kennt, weiß, dass Timing nicht gerade zu seinen Stärken gehört. Für ihn ist ein Tag mit seinen 24 Stunden eigentlich viel zu kurz. Er geht mit 50 neuen Ideen ins Bett, um mit 100 weiteren aufzustehen, wovon im Laufe des Vormittags 80 verworfen werden. Wer dabei als Angestellter nicht mitkommt, darf sich von Guido – obwohl er nie wirklich Zeit hat und ständig im Stress ist – einen Vortrag darüber anhören, wie man es schafft, seine Produktivität richtig zu nutzen. Zum Piepen. Denn über dieser Diskussion fallen wieder einige Ideen durch sein knapp bemessenes Zeitraster. Aber keine Sorge, der Ideenreichtum des Universums ist unerschöpflich.
Etwa fünf Wochen vor seiner Hochzeit bat Guido mich in sein Büro. „Du, Alter, ich hab mal auf den Kalender geguckt, und in fünf Wochen hab ich ja Hochzeit“, sagte er zu mir, während er hinter seinem Computer hervorlugte. „Ich würde ganz gerne auf
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