100 Stunden Todesangst
Schnee.
Eisbrocken
flogen gegen einen Zaun im Hintergrund. Dann zerrte Nicki eine halbe, jetzt
tiefgekühlte Bockwurst hervor.
„Da kann
man nichts machen“, meinte Locke.
Beide sahen
zu, wie es ihm schmeckte.
Nicki
schnüffelte weiter.
Bis zur
Kreuzung schien unter dem Schneewall nichts Interessantes zu liegen. Den
Laternenpfahl an der Ecke beschnupperte der schlaue Hund mindestens eine
Minute. Dann hob er das Bein und ließ einen gewaltigen Strahl ab.
„Jetzt noch
das Stück bis zu Lilienhahns Haus“, meinte Tom. „Deine Idee war gut,
Locke-Liebling. Aber der Erfolg will sich nicht einstellen. Manchmal hat selbst
unsereins Pech.“
„Laß ihn
nochmal an deiner Hand riechen. Sonst überdeckt die Bockwurst, und er sucht
nach der zweiten Hälfte.“
Tom stimmte
Nickis Riechorgan ein. Sie bogen links ab, folgten der schmalen Straße, in der
nicht geräumt war, und spähten hierhin und dorthin.
Nicki lief
zickzack. Er wedelte aufgeregt. Aber das galt sicherlich den Fährten der Katzen
und Hofhunde.
Aus einer
Hofeinfahrt kläffte ihn eine Promenadenmischung an, die ein bißchen wie eine
Ratte aussah und keinen Zentimeter größer war.
Da es sich
um eine Hündin handelte, zeigte Nicki keinen Ärger, sondern Begeisterung.
Offenbar roch sie auch gut. Denn er beschnupperte sie von allen Seiten, was sie
mit angelegten Ohren und eingekniffenem Schweif erduldete.
„Hund!“
sagte Tom. „Wir sind nicht zum Vergnügen hier. Such verloren! Mach!“
Als sie
Lilienhahns Haus erreichten, schien alle Hoffnung verloren.
Nicki
schnupperte an den Schneebergen rechts und links der Gartenpforte. Mehrere
Hunde hatten hier bereits markiert. Auch er hinterließ seine Marke.
„Elender
Bockmist!“ fluchte Locke sehr unfein. „Da bringt man ein gewaltiges Opfer,
indem man früh aufsteht. Und so wird das belohnt. Ich bitte dich herzlich,
verlier nie wieder Geld.“
„Freiwillig
nicht, du Opferlamm. Aber...“
Er sprach
nicht weiter, denn Lilienhahns Eingangstür öffnete sich.
„Dachte
ich’s mir doch“, rief Lilienhahn, ein silberhaariger Golflehrertyp mit
wettergegerbter Haut, „daß du nochmal kommst, Tom. Hallo, Locke! Wie geht’s?
Und euren mischrassigen Prachtkerl habt ihr auch mitgebracht. Wohl, wohl!“
Sie
begrüßten ihn. Und Tom fügte hinzu: „Nicki ist wegen seiner Spürnase dabei. Als
ich gestern zurückfuhr, habe ich nämlich was verloren. Wir dachten, vielleicht
stößt unser Tiger drauf.“
Lilienhahn
war lächelnd zum Gartentor gekommen. Eine Strickjacke umschlotterte ihn.
Außerdem trug er Hauslatschen mit heruntergetretener Fersenkappe.
„Junger
Freund!“ Er hob den Zeigefinger. „Du scheinst ja recht zerfahren zu sein. Lenkt
dich deine hübsche Freundin so ab?“
„Nö!“ sagte
Locke. „Im Gegenteil. Ich lenke ihn nicht ab, sondern hin — auf den rechten
Weg. Und meistens ist er die Ruhe selbst, nämlich so temperamentvoll wie ein
Doppelzentner Frühjahrskartoffeln. Aber mit meinem feurigen Wesen gleiche ich
das aus.“
Lilienhahn
lachte.
Er kannte
beide gut, auch den Rest der Familie.
„Sie hält
ihre Zappelei für Temperament“, sagte Tom. „So, jetzt müssen wir weiter. Wollen
noch bei der Oma vorbeischauen.“
„tststs!“
schüttelte Lilienhahn den Kopf. „Und doch bist du zerfahren. Hast ja schon wieder
was vergessen.“
„Wer? Ich?“
fragte Tom.
„Na, klar!
Bist ja schließlich deshalb nochmal hergekommen, nicht wahr?“
„Häh? Im
Moment checke ich nicht, was Sie meinen.“
„Darauf!“
Lilienhahn
griff in die Gesäßtasche und zog einen Umschlag aus steifem Papier hervor.
„Na? Das
Geld von der Sammlung. Hast es gestern auf der Flurgarderobe liegen lassen.
Gefunden habe ich es allerdings erst heute. Genau gesagt: vor zehn Minuten.
Gerade eben wollte ich deine Mutter anrufen. Aber dann sah ich euch.“
Tom wandte
sich Locke zu.
Ihre Augen
blitzten wie schwarze Diamanten.
Beide
brachen in Gelächter aus.
Nicki, der
das sehr komisch fand, sprang an ihnen hoch und mußte beruhigt werden.
„Wenn Sie
wüßten, Herr Lilienhahn“, rief Locke.
Dann
erzählten sie ihm alles.
„Aber auf
die Idee, Tom, daß du’s bei mir vergessen hast“, schmunzelte Lilienhahn, „bist
du nicht gekommen. Weil du mit deinen Gedanken bei Locke warst. Gib es zu!“
„Sie haben
recht, Herr Lilienhahn“, lachte Tom.
Sie
verabschiedeten sich.
Als sie
zurück sockten, meinte Tom: „Er ist eine nette alte Haut. Und von Tieren
versteht er was. Aber wie er mich
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