100 Stunden Todesangst
einschätzt — da kann ich nur lachen. Als
könnte mich irgendwas oder — wer aus der Ruhe bringen.“
„Jetzt
tönst du. Hahah! Aber ich hätte dich sehen wollen — ohne die grenzenlose Güte
meiner Oma. Da wärst du recht unruhig gewesen. Hättest hintreten müssen vor
Helgas Antlitz, um Zerfahrenheit zu bekennen und den Verlust von 637 Mark. Oma
wird sich freuen, wenn sie die jetzt zurückkriegt. So kurz vor Weihnachten — da
braucht man jede Mark. Besonders Großmütter brauchen sie. Weil sie gern
schenken.“
Sie holten
ihre Knatterstühle.
Nicki
lehnte es ab, im Korb Platz zu nehmen.
Er lief
nebenher, während sie durch den alten Dorfkern waldwärts fuhren, wo Omas
Häuschen steht: in der lauschigsten Gegend.
Als sie
ankamen, sahen sie den Postzusteller Alfons Schneckler, einen knochigen Oldie,
der schon seit 40 Jahren in Birkenrode seinen Dienst versah.
Neuerdings
klagte er über Rheuma, war aber immer noch rüstig.
Eben hatte
er ein Päckchen vor der Haustür auf die Schwelle gelegt, mehrmals den Kopf
geschüttelt, wiederum den Messingklopfer betätigt, dann aber den Rückzug
angetreten.
„Tag, Herr
Schneckler“, begrüßten ihn die beiden. „Nanu!“
„Ganz
recht!“ nickte er. „Es ist niemand zu Hause. Merkwürdig. Samstags geht eure Oma
eigentlich nie einkaufen. Ist sie verreist? Das hätte sie mir doch erzählt.“
„Sie hat
Besuch“, sagte Locke. „Eine Jugendfreundin. Sicherlich machen sie einen
Spaziergang. Oder sie sind im Café Bülse. Haben Sie Geld zu kriegen?
Zustellungsgebühr? Herr Conradi zahlt’s gern.“
„Nein,
nichts“, wehrte Schneckler ab. „Ich wußte nur nicht, wohin ich das Päckchen
legen sollte. Gehabt euch wohl, ihr beiden.“
Er zwang
seine rheumatischen Knochen auf das Dienstfahrrad und schlingerte den Weg
zurück.
Tom kratzte
sich am Kopf.
„Geschlossene
Vorhänge, Locke-Liebling! Das sieht aus, als wären die beiden zu
nachtschlafender Zeit aufgebrochen. Naja, hell wird’s erst spät. Vielleicht
sind sie mit dem Bus in die Stadt gefahren?“
„Möglich.
Wenn Oma allein wäre, hätte mich jetzt die Unruhe gepackt.“
Tom nickte.
„Ein alleinstehender, alter Mensch kann schnell mal verunglücken in seinen vier
Wänden. Und ist dann völlig hilflos. Aber daß beide gleichzeitig ausrutschen,
ist nicht anzunehmen.“
Trotzdem
umrundete er das Haus, indessen sich Nicki vor den Eingang setzte, die Tür
anhimmelte und freudig jaulte.
Locke sah
sich das Päckchen an.
Absender
war ein Versandgeschäft für Gesundheitstees.
Tom kam
zurück.
„Alles
dicht. Sind bestimmt nicht da. Aber unser Vierbeiner riecht die Oma und würde
sie zu gern begrüßen.“
„Oder er
riecht die Katze“, meinte Locke.
„Dann wäre
er nicht so frohsinnig, sondern jagdeifrig, obwohl er ihr, wenn er sie
erwischen sollte, kein Härchen krümmen würde.“
„Hm.“
Irgendwas
stört mich, dachte Locke.
Sie
betätigte den Messingklopfer.
Dann legte
sie das Ohr an die Tür und lauschte.
Aber im
Haus blieb alles ruhig.
„Kein
Grund, die Tür aufzubrechen“, sagte Tom. „Nehmen wir das Geld wieder mit? Nein!
Ich stecke das Kuvert in den Briefschlitz.“
Briefe und
die Tageszeitung paßten unter der Eisenklappe durch. Das
Gesundheitstee-Päckchen war dafür zu groß.
Tom klopfte
die Taschen seiner daumengefütterten Windjacke ab, fand einen Bleistiftstummel
und schrieb auf das Kuvert.
Liebe
Oma, wie Du siehst, hat sich das Geld angefunden, und ich kann’s dir
zurückgeben. Nochmals lieben Dank für Deine Hilfe. Auch Locke und Nicki waren
mit. Aber wir haben Euch nicht angetroffen. Schönes Wochenende — und herzliche
Grüße von uns allen! Auch an Frau von Hauch. Dein Tom
Klennnggg...
fiel die Briefschlitzklappe zu.
„Hoffentlich
schläft Frau Holle“, sagte Locke — und meinte Omas Kätzin.
„Weshalb?“
„Wenn sie
sich langweilt, könnte ihr Spieltrieb erwachen. Stell dir vor, sie fährt ihre
Krallen aus und beschäftigt sich mit dem Kuvert. Dann findet Oma nur
Papierfetzen vor, aber keine Banknoten.“
„Und sieben
Mark in Münzen. Die halten den Krallen stand.“
„Hoffen wir
das Beste!“
Sie
stiefelten zur Gartenpforte.
Nicki mußte
gezogen werden. Als sie abfuhren, sah er immer wieder zurück.
Auch Tom
wandte einmal den Kopf.
Sein Blick
erfaßte das Häuschen, und ihm schien, als bewege sich am Gästezimmerfenster im
Obergeschoß eine der geblümten Gardinen.
Eine
optische Täuschung? Natürlich. Immerhin waren sie schon ein ganzes
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