1001 Nachtschichten
drüben bei uns im Karnickelweg 67a.
Herr Viehtreiber, Sie wissen aber, was ›Effendi‹ bedeutet, oder?«
»Öhmm …«
»Nicht? Hat Ihnen der Karl May das nicht erzählt? Also Effendi zu sein heißt, ein ›richtiger Herr‹ zu sein. UndSüleyman Effendi war so ein richtiger Herr. Er war dick, er war alt, aber das Wichtigste: Er war mit Abstand die angesehenste Persönlichkeit in unserer Straße. Um es auf Neudeutsch zu sagen, er war der Superstar des Karnickelwegs. Dschörmänys ex Supermodel sozusagen …
Lieber Herr Viehtreiber, dick zu werden, habe ich geschafft, ohne es eigentlich zu wollen. Älter auszusehen ebenso, dafür hatte ich ja jahrelang den richtigen Job hier in Halle 4. Aber an meinem Ansehen, da haperte es gewaltig. Wenn dieses Fräulein Meierdierks von gegenüber damals nicht gewesen wäre, dann wäre mir ein besonders tolles Ansehen vielleicht nicht so wichtig gewesen. Aber dieses hübsche Fräulein Meierdierks würdigte mich nicht eines einzigen Blickes. Selbst ihr Dackel Jenny ignorierte mich.
Aber mit diesem Süleyman Effendi unterhielt sie sich stundenlang auf der Straße. Ihr Dackel Jenny ebenfalls.
Immer wenn Süleyman Effendi sie sah, verbeugte er sich tief – natürlich nur so weit, wie sein dicker Bauch es zuließ – und säuselte los:
›Einen herrlich guten Tag wünsche ich Ihnen, gnädiges Fräulein Meierdierks. Ich, Ihr ergebener Süleyman Effendi, grüße Sie heute …‹, er schaute auf seinen dicken Kalender, ›Donnerstag, den 12.11., um …‹, er schaute auf seine goldene Uhr, ›um 17:15 Uhr, von ganzem Herzen!‹
Das hübsche Fräulein Meierdierks lächelte dann immer etwas verlegen und murmelte:
›Guten Tag, Herr Süleyman Effendi, Sie schon wieder …‹
›Liebes Fräulein Meierdierks‹, sagte Süleyman Effendiermuntert, ›all diese lauwarmen Regentropfen, die unsere Haut benetzen, erinnern mich an allerliebste Frühlingssinfonien, und dadurch werde ich immer so unendlich romantisch …‹
›Und ich werde dadurch vollkommen klitschnass. Tschüss!‹
Ich war völlig verzweifelt, dass ich es nicht schaffte, mit dem wundervollen Fräulein Meierdierks ein vergleichbar geistreiches Gespräch zu führen wie Süleyman Effendi. Ich war drauf und dran, mich in die Weser zu stürzen, um mich zu vergiften. Damals ging das problemlos, als die DDR noch ihre Industriegifte über die Weser rüber in den Westen schickte.
Bei diesem Problem mit Fräulein Meierdierks konnte ich ja auch nicht meine Frau um Rat fragen, Eminanim hätte mit mir noch kürzeren Prozess gemacht als die Weser! Wenn sie will, kann sie nämlich noch giftiger sein, als dieser Fluss mit seinen Industrieabfällen es jemals war!
Dann endlich kam mir die rettende Idee: Ansehen direkt beim Fachmann von Grund auf zu erlernen. Und zwar bei Süleyman Effendi, bei wem denn sonst?
Am nächsten Abend, als er gerade im Begriff war, unser türkisches Männercafé zu verlassen, habe ich mich endlich getraut, ihn danach zu fragen:
›Lieber Süleyman Effendi, ich muss unbedingt wissen, wie es Ihnen gelungen ist, bei unseren deutschen Nachbarn so angesehen zu sein; insbesondere bei Fräulein Meierdierks‹, bettelte ich ihn an. ›Lieber Süleyman Effendi, wenn Sie meinen, es läge nur am möglichst dicken Bauch, wohlhabend zu wirken, hier, den habe ich auch. Wenn Siemeinen, es käme drauf an, möglichst alt und weise auszusehen, dann schauen Sie mir bitte ins Gesicht, ich sehe älter aus als der Ötzi persönlich! Aber trotzdem bin ich nicht so angesehen wie Sie!‹
›Osman, du bist leider auch nicht so intelligent wie ich‹, sagte er. ›Aber mit einem kleinen Trick kannst sogar
du
es schaffen, großes Ansehen zu bekommen. Wenn du mir ein paar Gläser Tee ausgibst, verrate ich dir alles‹, versprach er.
Mit großer Geste und viel Lärm rührte er fünf Würfelzucker in seinen Tee und nahm laut schlürfend den ersten Schluck. Und dann erzählte er mir die Geschichte, die mein gesamtes Leben von Grund auf für immer ändern sollte …
›Osman, weißt du, was Sperrmüll ist?‹, fragte er mich.
›Aber natürlich weiß ich das, hochverehrter Süleyman Effendi. Schließlich habe ich erst letzte Woche mein neues rotes Sofa auf dem Sperrmüll hier in unserer Straße gefunden. Passen ganz locker fünf Leute drauf!‹, prahlte ich mit meinem Wissen.
Herr Viehtreiber, wie Sie sich sicherlich noch erinnern werden, damals haben ja alle Leute in der Straße am gleichen Tag ihren Sperrmüll vor die Tür gestellt.
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