1005 - Im Bann des alten Königs
hinhören, um ihn verstehen zu können. »Ich gehe davon aus, daß Sie sich nicht geirrt haben. Aber können Sie mir so etwas wie eine Erklärung geben?«
»Das ist schwer.«
»Ich weiß. Die Frage stellt sich, ob Horace F. Sinclair nun tot ist oder nicht.«
»Medizinisch gesehen ist er tot.«
»Aber er hat doch gesprochen.«
»Ja – und auch nein, Sir. Denn ich denke, daß es eher Lalibela gewesen ist.«
»Mit seiner Stimme?«
»Nein«, sagte Suko, »das auch nicht. Ich weiß nicht, ob es die Seele war, die sich noch einmal gemeldet hat, jedenfalls steht der Tote unter dem Einfluß dieses Geistes.«
»Und John hat ebenfalls mit ihm zu tun.«
»Das kann sein.«
»Und kann es auch sein«, stellte Sir James die nächste Frage, »daß der tote Horace F. Sinclair mit seinen fremden Augen sieht, was sein Sohn momentan erlebt? Können Sie über diese Brücke gehen, die ich Ihnen gebaut habe?«
Suko antwortete nicht spontan. »Es ist schwer, Sir, aber ich werde es wohl müssen.«
»Dann gibt es auch für Sie keine anderen Folgerungen?«
»Nein.«
»Irgendwo beruhigt mich das. Aber was ist mit Mary Sinclair geschehen?«
»Sie ist und bleibt normal tot. Falls man so etwas überhaupt sagen kann.«
»Ja«, murmelte der Superintendent nach einer kurzen Pause. »Ich wünsche es ihr.«
»Gut, ich werde dann Schluß machen, Sir. Wobei ich davon überzeugt bin, daß die Nacht noch lang werden kann. Sie wird immer lang, wenn man auf etwas wartet.«
»Das stimmt schon. Was könnte denn geschehen?«
»Ich kann nichts sagen und möchte es auch nicht. Jedenfalls halte ich Wache bei Johns toten Eltern.«
»Ja, das ist wohl gut«, gab Sir James zu. »Ich werde ebenfalls warten. Aber das wissen Sie ja, Suko.« Er legte auf und ließ im fernen Lauder einen sehr nachdenklichen Mann zurück, der gegen die Wand schaute, als stünde dort die Lösung aller Dinge. Aber Wunder gab es nicht oder nur äußerst selten.
Suko stand wieder auf. Es bereitet ihm wirklich kein großes Vergnügen, als Totenwächter zu fungieren, aber er fühlte sich dort hingezogen. Etwas in ihm war aufgewühlt und teilte ihm mit, daß er die Leichen keinesfalls allein lassen durfte.
Deshalb ging Suko wieder zurück.
Er haßte den Weg durch den Gang. So mußten auch die Menschen aus den Todeszellen einen Gang hassen, der sie in die Gaskammer führte oder auf den elektrischen Stuhl.
Es war kalt. Es gab keine Wärme. Es gab auch keine Menschlichkeit, nur zwei Tote hinter der schlichten Tür, die Suko sehr bald öffnete, um über die Schwelle zu treten.
Das Licht brannte.
Er konnte sehen, erkennen, und sein erster Blick konzentrierte sich auf das Gesicht des toten Horace F. Sinclair. Natürlich lag die Leiche noch immer am selben Platz. Wie hätte sie sich auch bewegen können?
Und doch war etwas geschehen!
Suko wußte es. Er hatte es nicht sofort gesehen. Er mußte zunächst näher an die Leiche heran. Nur spürte er den eigenen heftigen Herzschlag, und er schüttelte auch den Kopf.
Sein Blick konzentrierte sich einzig und allein auf die Augen. Nach wie vor waren die Pupillen braun, aber sie sahen trotzdem anders aus. Sie schimmerten, sie waren wäßrig.
»Verdammt, das gibt es doch nicht«, flüsterte Suko. Er trat noch näher an den Leichnam heran.
Dann sah er es überdeutlich.
Auf den wächsernen und schon leicht gelblich schimmernden Wangen malten sich die nassen Flecken ab.
Tränen!
Für Suko gab es nur eine Erklärung. Der tote Horace F. Sinclair hatte geweint.
Um wen?
Um John, seinen Sohn!
Für Suko stand es einwandfrei fest. Plötzlich bekam auch er große Angst um seinen Freund…
***
Frankreich! Alet-les-Bains. Der Ort der Templer und des Mannes, der Abbé Bloch hieß.
Der Tag neigte sich seinem Ende entgegen. Hätte man Bloch gefragt, wie er ihm gefallen hätte, der Frager wäre mit einem Kopf schütteln abgespeist worden. Es lag kein guter Tag hinter dem Templer-Führer. Überhaupt keine gute Zeit, denn der Abbé wußte auch, daß er den Stein ins Rollen gebracht hatte. Nur durch ihn war John Sinclair nach Chartres gekommen, um sich dort mit Angares zu treffen, der zunächst bei den Templern in Alet-les-Bains Schutz gesucht hatte.
Bloch kannte die Probleme. Er wußte auch, wie tiefgreifend sie waren, und er wäre nicht überrascht gewesen, wenn sie noch wuchsen. Nicht zuletzt durch den Besuch in der Schlucht, wo das silberne Skelett des Hector de Valois seinen Platz gefunden hatte. Es hatte den Abbé einfach dorthin
Weitere Kostenlose Bücher