1005 - Im Bann des alten Königs
Darauf kam es ihm an, und er wollte, daß sich die beiden Kräfte in der Mitte trafen. Zusammen würden sie hoffentlich ein Bild ergeben, das ihn weiterbrachte.
Die Erschöpfung des Abbé verlor sich. Ein anderer Zustand ergriff von ihm Besitz, in den er immer tiefer eintauchte, so daß die normale Welt des Zimmers nicht mehr; wichtig war und für ihn einzig und allein nur der Würfel zählte.
Der Würfel als Fenster.
Der Abbé in Trance!
Beides paßte zusammen, und beides würde dafür sorgen, daß der Würfel seine magische Botschaft ausstrahlte. So hoffte der Abbé auf die Bilder, die für ihn allein wichtig waren.
Seine eigene Gedankenwelt trat zurück. Er rutschte immer tiefer in die Trance hinein, wobei er die Augen nicht geschlossen und nur gesenkt hielt, damit er auf die Würfelfläche schauen konnte und damit auch hinein in das Innere.
Bewegt hatte sich dort noch nichts. Es war nur eine gewisse Unruhe zu spüren. Für Bloch positiv. So wußte er, daß sich der Würfel nicht gegen einen Kontakt wehrte. Und auch nicht gegen seine eigene Gedankenwelt und die Wünsche.
Die tiefe Farbe bekam Risse.
So zumindest sah das Bild im Würfel aus, als die hellen Schlieren entstanden und aus einer unendlichen Tiefe in die Farbe hineinzusteigen schienen, wo sie ihre hellen Spuren hinterließen. Die Schlieren bewegten sich noch langsam, aber sie hatten bereits den Kontakt zu Abbé Bloch aufgenommen.
Er spürte es in seinem Kopf. Dort kreisten fremde Gedanken. Sie waren dabei zu wechseln, um sich anders, und zwar in Bildern, ausdrücken zu können.
Bloch schaute in den Würfel. Zugleich konzentrierte er sich auf die Bilder in seinem Kopf, die einfach noch zu sehr verschwammen und sich nur allmählich klärten.
Im Würfel bewegten sich die Schlieren inzwischen schneller, als gehorchten sie einzig und allein nur noch den Gedanken und Befehlen des Würfelbesitzers.
Die hellen Schlieren peitschten durcheinander. Der Abbé stöhnte leise auf. Es war ihm jetzt nicht mehr möglich, auch nicht bei voller Konzentration, in den Würfel zu schauen, denn die hellen Fäden und die rote Farbe vermischten sich.
Zugleich nahmen die Bilder Gestalt an. Der Abbé konnte nicht mehr unterscheiden, ob sie sich in dem Würfel abzeichneten oder ob sie durch seinen Kopf irrten wie ein Filmstreifen.
Aber er sah.
Und er schrak zusammen, als er die helle Gestalt entdeckte, die sich voranbewegte und im ersten Moment so aussah, als wäre sie von einer Lichtaura umgeben.
Ein Geist!
Nein, kein Geist. Es war jemand, der existierte, wenn auch in einer nichtmenschlichen Form. Normalerweise lag das silberne Skelett des Hector de Valois in seinem Sarg am Ende der Schlucht. Den Ort hatte es verlassen, und es wanderte durch die Dämmerung einem neuen Ziel entgegen.
Der Abbé hatte sich völlig fallen lassen. Er konzentrierte sich einzig und allein auf das Skelett und natürlich auf dessen Umgebung.
Er wollte herausfinden, wohin es sich wandte, denn das mußte auch in der Dämmerung zu sehen sein.
Viele Schatten drückten sich zu einem finsteren Grau zusammen.
Der Himmel hoch über der einsamen Gestalt hatte längst sein Licht verloren. Wolken trieben dahin. Sie wehten auch über die Häuser der kleinen Stadt hinweg.
Das Skelett ließ sich nicht beirren.
Es ging weiter.
Sein Ziel war die Stadt…
Der Abbé stöhnte auf. Die Hände lösten sich von den Seiten des Würfels, denn plötzlich war ihm alles klar.
Das silberne Skelett hatte sich nicht nur irgendeine Stadt ausgesucht, sondern eine ganz bestimmte.
Alet-les-Bains.
Und Bloch wußte auch, daß es für den Rest des Hector de Valois nur ein Ziel gab, das interessant war.
Das Haus der Templer!
Bloch wußte es. Und trotzdem konnte er es nicht so einfach akzeptieren. Aber der Besucher würde kommen, und er erschien sicherlich nicht ohne Grund.
Der Abbé stand auf.
Er verließ sein Zimmer.
Er eilte durch den Gang auf die breite Haustür zu. Die Brüder, die ihn sahen, staunten über sein Verhalten, aber sie hatten sich an die Macken ihres Anführers gewöhnt.
Persönlich zerrte Bloch die Tür auf.
»Willkommen!« sagte er nur, als das silberne Skelett des Hector de Valois seinen letzten Schritt auf das Haus zuging…
ENDE des sechsten Teils
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