1008 - Endloser Schrecken
Gefühl zu zerplatzen oder sterben zu wollen, denn was ich im Spiegel sah, war einfach unglaublich und nicht zu fassen.
Nicht mein Gesicht sah ich dort, sondern das meines toten Vaters!
***
Es war nicht zu glauben, nicht zu fassen und auch nicht nachzuvollziehen. Mein Vater! Nein, ich! Mein Vater und ich. Plötzlich war ich durcheinander. Ich kam mit den Tatsachen nicht mehr zurecht. Alles floß an mir vorbei, und ich stand da wie jemand, der zum erstenmal in seinem Leben überhaupt etwas sieht.
Furchtbar!
Ich war nicht mehr ich. Ich war mein eigener Vater. Zumindest hatte sich mein Gesicht in seins verwandelt. Selbst die Haare hatten diese graue Farbe angenommen. Die Augenbrauen ebenfalls, auch die Pupillen hatten eine etwas andere Farbe. Die Nase, der Mund, die Wangen, eine Haut, die nicht mehr so straff war wie meine. Das andere Kinn, die etwas höhere Stirn mit den Falten…
Furchtbar!
Konnte ich denken?
Nein, es war unmöglich. Ich schaffte es nicht, auch nur eine klaren Gedanken zu fassen. Das Gesicht, das ich im Spiegel sah, war nicht meins.
Es war das meines Vaters!
Aber warum? Wieso?
Erst jetzt fiel mir auf, daß ich nicht laut geschrien hatte. Dieser Schrei war nur in meinem Innern aufgeklungen. Es war der stumme Ruf der Verzweiflung gewesen, die mich durchtost hatte.
Ich war nach vorn gefallen und stützte mich auf dem Rand des Waschbeckens ab. Obwohl ich meine Arme durchgedrückt hatte, zitterten sie stark, aber sie brachen noch nicht zusammen. Ich sah mich selbst nicht mehr, da ich den Kopf gesenkt hielt. Dabei starrte ich mit offenen Augen in das Waschbecken hinein, doch auch dort konnte ich nichts mehr klar erkennen. Das Porzellan verschwamm zu einer regelrechten Soße, und ich merkte auch, wie das würgende Gefühl vom Magen her hoch in meine Kehle stieg und sich dort festsetzte.
Mein Rücken zuckte, als ich schluchzte. Ich schüttelte dabei den Kopf. Der Mund stand offen. Speichel floß aus ihm hervor und tropfte in das Waschbecken. Der Schweiß lief mir wie Bachwasser über das Gesicht. Keuchende Laute verließen meinen Mund, die Bitterkeit im Magen stellte sich wieder ein.
Unendlich mühsam stemmte ich mich wieder hoch. Die Augen öffneten sich erst, als ich direkt in den Spiegel schauen konnte und feststellte, daß sich nichts verändert hatte.
Es war das Gesicht meines Vaters geblieben!
Ich schüttelte den Kopf. Wieso war aus mir in der letzten Nacht ein alter Mann geworden? Warum hatte ich es nicht mitbekommen?
Es waren Fragen, die mich betrafen, aber es gab auch noch andere, die wiederum beschäftigten sich mit meinem Vater. Auch sein Gesicht hatte sich verändert und war zu einem bleichen Knochenschädel geworden. Dafür gab es einen Grund. Lalibelas Macht schien dafür gesorgt zu haben.
Aber doch nicht bei mir.
Und dazu noch in dieser Verwandlung!
Ich kam damit einfach nicht zurecht. Ich hatte große Probleme, und immer wieder stieg das Blut wie eine kochende Flüssigkeit in mir hoch, als wollte es mir den Schädel sprengen.
Nur mein Gesicht hatte das Aussehen des Horace F. Sinclair angenommen und nicht mein Körper. Der war unverändert geblieben.
Auch wenn ich jetzt ziemlich down und matt war, ich hatte noch die gleiche Energie wie sonst auch.
Also gut.
Der Schrecken ging weiter. Ich mußte mich damit abfinden und durfte nicht zusammenbrechen. Das war natürlich leicht gesagt, doch die Angst ließ sich nicht unterdrücken.
Zwar »blickte« ich in Richtung Spiegel, aber ich hielt die Augen diesmal geschlossen, weil ich mich den eigenen Gedanken und Überlegungen voll und ganz hingeben wollte.
Es war etwas passiert, das stand fest. An eine Täuschung glaubte ich nicht. Kein Irrtum, der Spiegel schickte mir die gesamte grausame Wahrheit zurück.
Das Gesicht meines Vaters!
Mein Körper.
Und dann erinnerte ich mich an die Botschaft, die ich in der letzten Nacht in der Leichenhalle erhalten hatte. Was hatte mir Lalibelas Geist zu verstehen gegeben?
DU BIST SOHN UND VATER ZUGLEICH!
Ja, so war es gewesen.
Sohn und Vater zugleich!
Ich hatte über diesen Satz oder über diese Botschaft natürlich nachgedacht. Nur war es mir nicht gelungen, sie einzuordnen. Sie war einfach zu fremd und abstrakt gewesen. Zumindest vor einigen Stunden. Nun erkannte ich die gesamte Wahrheit. Ich war noch immer ein Mann namens John Sinclair, aber ich war Vater und Sohn zugleich. Aus meinem Gesicht war seins geworden, und damit kam ich nicht zurecht. Ich würde damit nie zurechtkommen, das
Weitere Kostenlose Bücher