101 - Gangster in London
Stellung gefunden hatte. Eddie Tanner war ihr sympathisch, aber sein Wesen beunruhigte sie. Sie hätte ihn anrufen und ihm sagen können, daß sie bereits bei der Firma Dorries untergekommen war. Aber das wäre zu unhöflich gewesen. So machte sie sich also zum Berkeley Square auf.
Ein livrierter Diener begrüßte sie lächelnd, und sie folgte ihm in ihr früheres Büro, das Eddie sich jetzt als Arbeitszimmer eingerichtet hatte.
Er schob einen Stuhl an den Schreibtisch. »Nehmen Sie Platz, Miss Ranger, und erzählen Sie mir, was es Neues gibt!«
»Das ist nett, daß Sie mich zuerst erzählen lassen. Ich habe nämlich eine Stelle in Aussicht. Bei Dorries, einer der ältesten Firmen der City...«
Er lächelte. »Ja, alt ist die Firma, aber ein bißchen in Verfall geraten. Früher hatte sie viele Niederlassungen in Indien. Neulich sagte mir jemand, sie sei wieder saniert. Ich kann mir vorstellen, daß das eine gute, anständige Stellung ist.« Er sah sie merkwürdig an. »Aber hören Sie deshalb doch ruhig an, was ich Ihnen anzubieten habe!« Er stand am Schreibtisch und klopfte mit den Fingern leise auf die polierte Fläche. »Haben Sie schon mal daran gedacht, zu heiraten?« Sie war so erstaunt, daß sie nicht gleich antworten konnte. »Eine komische Frage - nicht wahr? Aber haben Sie nicht etwa doch an eine Ehe gedacht, und zwar im Zusammenhang mit mir? Sie könnten an meiner Seite ein glänzendes Leben führen...«
Endlich fand sie die Sprache wieder. »Sie wollen - Sie haben doch nicht die Absicht... Sie möchten mir einen Antrag machen, Mr. Tanner?« »Sie können ruhig ›Eddie‹ sagen, wenn Sie nichts dagegen haben! Das verpflichtet Sie zu nichts, und es klingt viel freundlicher. Als Terry Weston Sie zum erstenmal traf, bat er Sie auch, ihn beim Vornamen zu nennen... Stimmt das nicht?« Woher wußte er das nur?
»Es kommt nicht darauf an, woher ich das weiß.« Er lächelte über ihre Verwirrung. »Manchmal kann ich Gedanken lesen... Ich habe Sie wirklich gern, und das ist mehr wert als eine uferlose Leidenschaft. Sie würden es gut bei mir haben...« Sie schüttelte den Kopf.
»Nein?« fragte er. Merkwürdigerweise war er nicht verletzt über ihre Ablehnung; er schien nicht einmal enttäuscht zu sein.
»Können Sie sich nicht dazu entschließen...? Wirklich schade!« Er lächelte sie wieder freundlich an.
»Es tut mir so unendlich leid«, erwiderte sie stockend. »Es ist eine große Ehre...«
»Nein, es ist keine Ehre!« unterbrach er sie. »Glauben Sie mir! Ich bin schon dreimal verheiratet gewesen... Es ist wirklich keine Ehre für eine Frau, mich zu heiraten.« Er steckte die Hände in die Taschen und schritt im Zimmer auf und ab. »Sie hätten meinen Antrag ja auch nur angenommen, weil Sie wissen, daß ich Ihnen ein angenehmes Leben verschaffen kann; nicht, weil Sie mich lieben. Ich weiß genau, wann eine Frau mich liebt. Ich fühle das. Nur ein einziges Mal habe ich das erlebt. Drei Wochen nach der Hochzeit kam die Frau ins Irrenhaus. Sie hatte sich falsche Vorstellungen vom Leben gemacht - Illusionen. Auch über mich... Nach der Scheidung wurde sie geheilt, heiratete aufs neue und hatte drei Kinder. Jetzt ist sie Erste Vorsitzende des Frauenverbandes gegen den Alkohol. Seit vielen Jahren bezieht sie eine jährliche Unterstützung von mir, obwohl sie weiß, daß ich mein Geld mit Alkoholschmuggel verdiene... «
Leslie starrte ihn an. »Waren Sie - Alkoholschmuggler?« Er nickte. »Das war auch der Alte - ich meine meinen Onkel Decadon. Sie glauben nicht, was der alles gemacht hat!« Er lachte. Zum erstenmal sah sie ihn so vergnügt. »Onkel Elijah hat mehr Alkohol nach den Staaten verfrachtet als irgendein anderer Bürger von England. Er war Eigentümer der beiden ersten heimlichen Kneipen in Chikago, finanzierte den berüchtigten Dean O'Banion und gab eine Million Dollar aus, um dessen Gegner Scarface über den Haufen zu knallen. Ja, ich glaube wohl, daß Sie das nicht geahnt haben. Und doch hat er alles von London aus dirigiert; er war in seinem ganzen Leben nur dreimal in Chikago. Ich war sein Agent und Hauptvertreter dort, und oft hat er versucht, mich übers Ohr zu hauen. Deshalb kam ich auch so häufig nach London.«
»Wer hat Mr. Decadon erschossen?« fragte Leslie ernst. Eddie schien nicht im geringsten verwirrt oder verlegen. »Er hat sich selber umgebracht«, entgegnete er kühl. »Vergießen Sie nur keine Träne um ihn! Er war ein ganz hartgesottener Sünder!«
»Aber jetzt haben
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