1043 - Engelkinder
Lippen, aber er war kaum zu hören, als sie ihn ausstießen.
»Ich glaube, wir können jetzt gehen!« wisperte Harriet.
»Ja, geh vor, bitte.«
Harriet war es gewohnt, die erste zu sein, auch auf ihrem allerletzten Weg. Trotzdem wollte sie es diesmal ändern. Sie faßte Cosimas Hand an. Die Hintertür ließ sie offen. Es spielte keine Rolle mehr. So gingen die beiden Frauen Hand in Hand über die Rückseite ihres Grundstücks hinweg und durchquerten damit eine Welt, die eigentlich schon nicht mehr die ihre war.
Die wenigen Obstbäume wirkten auf sie wie Wächter aus einem Totenreich, die extra erschienen waren, um sie auf dem letzten Weg ihres Lebens zu begleiten. So wie sie ihre kahlen Arme ausgestreckt hatten, konnte es manchmal aussehen, als wollten sie die beiden Frauen zum Abschied noch grüßen. Wie abgesprochen umspielte die Lippen der Schwestern ein verloren wirkendes Lächeln.
Sie gingen dorthin, wo sich der Dunst etwas mehr verdichtet hatte. Dort lag der See. Er war nicht groß, aber er war auch kein Teich. Im Sommer ein wunderbares Erholungsgebiet für streßgeplagte Großstädter. Im Winter aber wirkte er leer und oft genug wegen seines düsteren Wassers auch unheimlich.
Auf dem Boden an der Rückseite des Grundstücks wuchs das Gras zu einer dichten Wiese zusammen. Eigentlich war der Boden immer feucht, auch in den trockenen Sommern, doch weiter vorn, wo kein Zaun das Ende des Grundstücks markierte, war er richtig weich, und jeder Tritt hinterließ Spuren.
Sie rochen das Wasser. Nicht frisch. Kalt und auch faulig. Es war schon ein leichter Sumpfgeruch, der ihnen entgegenwehte und sie an die Vergänglichkeit des Seins erinnerte.
Die Gesichter der Schwestern waren starr, als trügen sie Masken. Nur ihre Hände krampften sich stärker zusammen, je mehr sie sich der ersten Zieletappe näherten.
Man mußte sich schon auskennen wie die Wayne-Schwestern, um das Ziel nicht zu verfehlen. In der Dunkelheit und im hohen Ufergras war es fast völlig zugedeckt. Zum erstenmal hörten sie auch das Plätschern der Wellen, die ein sanfter Wind gegen das Ufer trieb. In ihrem Bereich bewegten sich auch die hohen Gräser als lauschten sie einer Melodie, die nur für sie hörbar war.
Auch der Beginn des alten Holzstegs war von Pflanzen überwachsen worden. Harriet stellte zuerst ihren Fuß darauf und lauschte dem dumpfen Ton nach, den der Tritt auf dem alten und weich gewordenen Holz verursachte.
»Sei vorsichtig, Cosima, es ist rutschig.«
»Keine Angst, ich gebe schon acht.« Auch Cosima erkletterte den Steg, wobei sie die Hand ihrer Schwester festhielt. Da der Steg breit genug war, blieben die beiden Frauen auch nebeneinander stehen. Sie schauten nicht zum Haus zurück, sondern nur nach vorn über die dunkle und sich kaum bewegende Fläche des Sees hinweg. Das Wasser sah wirklich aus wie schwarzgrüne Tinte und schien hinein in die finstere Unendlichkeit zu stoßen, denn das andere Ufer war nicht zu sehen. Dort standen einige Ferienhäuser. Zu dieser Jahreszeit waren sie nicht belegt, und es schimmerte auch kein Licht hinter den Fenstern.
»Ja«, sagte Harriet und stieß das Wort stöhnend aus. »Dann wollen wir mal weitergehen.«
Cosima gab keine Antwort. Sie merkte nur, wie nahe sie dem eigentlichen Ziel waren, und sie spürte auch das Zittern ihrer Hand, worüber sie sich ärgerte. Sie hatte sich vorgenommen, stark zu sein und stark zu bleiben. Es war so schwer, so verdammt schwer, auch wenn schon sieben Jahrzehnte hinter ihr lagen. Dabei war ihr die Zeit gar nicht so lang vorgekommen. Sie hörte ihre eigenen Schritte, und jedes Echo auf den weichen, glatten Planken schien ein Bild oder eine Szene aus ihrer Vergangenheit hervorzuholen.
Schöne Zeiten, auch weniger gut. Der Krieg, der Aufbau, finanzielle Nöte, dann der Aufschwung.
Ihnen ging es besser. Eine gewaltige Leistung hatten sie vollbracht, aber sie hatten nur für sich gearbeitet. Es gab keine Männer ihn ihrem Leben und auch so gut wie keine Verwandte. Nur eine Nichte leben noch in London, doch zu ihr war der Kontakt schon lange abgebrochen.
Beide Schwestern hatten sich mehr ums sich selbst gekümmert und alles andere außer acht gelassen.
»Träumst du, Cosima?«
Harriets Stimme riß die Frau aus ihren Gedanken. »Nein, ja, ich habe…«
»Wir sind da.«
Das hieß, sie hatten das Ende des Stegs erreicht und damit auch das zweite Etappenziel. Und genau hier war das Boot mit Hilfe eines Taus verankert worden.
Es war ein schlichter Kahn
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