1048 - Blutende Schatten
war kälter und klarer als in London. Es schmeckte auch besser, das wußte ich ebenfalls. Es war schon seltsam, mit welchen Gedanken ich mich beschäftigte. Möglicherweise baute meine Psyche schon eine innere Abwehr auf.
Im Spiegel sah ich auch, daß Terence Bull hinter mich getreten war. »Ich möchte dich noch etwas fragen, John, und hoffe, daß du es mir nicht übelnimmst.«
»Wie könnte ich das?« Ich griff zum Handtuch und trocknete mein Gesicht ab. Dabei hörte ich den Worten meines Freundes zu.
»Ich möchte mich nicht aufdrängen, John, aber wenn du willst, dann begleite ich dich zum Haus deiner Eltern. Vier Augen sehen ja mehr als zwei. Möglicherweise kann ich für dich auch etwas tun und…«
Ich hob die Arme und damit auch das Handtuch von meinem Gesicht weg. »Nein, das nicht, Terence. Bitte, du darfst es mir nicht übelnehmen, aber diesen Weg muß ich allein gehen.«
Er runzelte die Stirn, bevor er nickte. »Ja, John Sinclair«, erwiderte er etwas förmlich. »Das habe ich mir schon gedacht. Ich hätte an deiner Stelle ja nicht anders gehandelt. Ich habe mich nur noch einmal vergewissern wollen.«
»Danke für deine Bemühungen.«
Bevor ich ging, verabschiedete ich mich auch von Sugar. Er saß noch immer schweigend auf seinem Platz und hörte meine Worte kaum. Ich war froh, daß sich Terence, der mich noch bis zur Tür brachte, auch weiterhin um ihn kümmerte.
»Du kannst mir trotzdem einen Gefallen tun«, sagte ich.
»Gern, welchen?«
»Rufe in London an. Sollte Suko nicht im Büro sein, dann sag meiner Sekretärin Glenda Perkins Bescheid, daß ich gut angekommen bin und daß alles in Ordnung ist.«
»In Ordnung?«
»Na ja - fast«, erwiderte ich mit verzogenen Mundwinkeln und ging dann auf meinen Jeep zu.
Der Kollege schaute zu, wie ich einstieg. Ich schloß die Tür, startete den Motor, ein letztes Winken, dann fuhr ich ab…
***
Noch eine Kurve, dann kam das Haus richtig in Sicht, und ich hatte mein Ziel erreicht.
Wie oft war ich diesen Weg gefahren. Eigentlich immer mit etwas Herzklopfen. Früher war es oft die freudige Erwartung gewesen, an diesem Nachmittag jedoch nicht, der sich ebenso trübe zeigte wie ich mich innerlich fühlte.
Die Kurve war geschafft. Freier Blick!
Da stand der Baum. Die mächtige Linde, die ihr Laub verloren hatte. Es lag auch nicht mehr um den Stamm herum. Der Wind hatte es längst weggeweht.
Wie ein Schutz baute sich der Baum vor dem aus mächtigen und harten Bruchsteinen errichteten Haus meiner verstorbenen Eltern auf. Noch immer kam ich nicht damit zurecht, daß dieses Haus jetzt in mein Eigentum übergegangen war. Ich würde damit auch kaum klarkommen und es in Zukunft ebenfalls als das Haus meiner Eltern ansehen.
Ich stieg aus und drückte die Wagentür zu. Der Wind war hier oben kälter. Er biß gegen meine Haut, aber es konnte auch durchaus sein, daß ich an einer Einbildung litt.
Ich hätte das Haus durch das zerbrochene Fenster betreten können. Das wollte ich nicht. Ich war kein Dieb und kein Einbrecher, aber ich schaute mir die Spuren an.
Ja, es war so, wie man es mir gesagt hatte. Eines der seitlichen Fenster war eingeschlagen worden, und die Scherben verteilten sich in dem Raum dahinter.
Auf meinen Handflächen lag ein leichter Schweißfilm. Hinter der Stirn spürte ich das Tuckern. Die Nervosität stieg mit jeder verstreichenden Sekunde an.
Ich ging wieder zurück zum Jeep und öffnete die Heckklappe. Das Schwert lag unter der Decke. Ich schob sie zur Seite und zog den Reißverschluß des Etuis auf.
Dann hob ich die Waffe an.
Sie lag gut und griffig in meinen Händen. Ich schloß die Klappe wieder, nahm das Schwert in die linke Hand und holte mit der rechten den Haustürschlüssel aus der Tasche hervor.
Das Metall lag kühl in meiner Hand, war aber warm geworden, als ich den Schlüssel in das Schloß schob.
Ich kam mir plötzlich so verdammt einsam vor und war auch aufgeregt. Der Schlüssel packte. Ich stieß die Tür nach innen auf und spürte sofort den Durchzug.
Dann betrat ich mit einem verdammt mulmigen Gefühl das Haus meiner verstorbenen Eltern…
ENDE des ersten Teils
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