105 - Das indische Tuch
Ausnahme von einigen schweren Abschürfungen war der Überfallene mit dem Schrecken davongekommen.
»Es war ein Strick über den Weg gespannt«, sagte der Mann noch ganz benommen. »Als ich mit dem Rad stürzte, sprang ein Mann auf mich zu und versuchte, mir ein Tuch um den Hals zu schlingen.«
Totty leuchtete sofort die Umgegend ab, aber sie konnten von dem Angreifer keine Spur mehr finden.
»Können Sie ihn beschreiben?«
»Ich konnte ihn nicht genau sehen … Aber er muß sehr stark gewesen sein, denn er hob mich vom Boden auf. Ich schlug mit der Faust nach ihm, aber ich glaube kaum, daß ich ihn richtig getroffen habe.«
Totty suchte nach dem Strick und fand ihn gleich darauf. Das Seil war von einem Baum zum anderen gespannt gewesen und durch den Anprall zerrissen worden.
»Haben Sie beobachtet, nach welcher Richtung der Mann verschwand?«
»Nein.«
Der Kurier hinkte über den Weg und hob sein Motorrad auf. Mit Tottys Hilfe untersuchte er dann die Maschine. Es war nichts daran kaputt, nur das Glas des Scheinwerfers war zertrümmert. Kurz entschlossen gab Totty dem Mann seine eigene Lampe und schnallte sie mit einem kurzen Lederriemen an der Lenkstange fest.
»Mir ist nichts passiert, ich kann weiterfahren, aber den Kerl möchte ich doch erwischen!«
»Sie sagten eben, daß er versuchte, Ihnen ein Tuch um den Hals zu schlingen? Vielleicht hat er es fallen lassen.«
Totty eilte nach dem Haus zurück und brachte eine neue Taschenlampe, aber nirgends entdeckten sie ein rotes Seidentuch. Auch sonst fanden sie keine Spuren.
»Haben Sie den Brief noch?«
Der Mann fühlte nach seiner Kuriertasche. Der Lederriemen war halb durchschnitten; es mußte ein sehr scharfes Messer dazu benützt worden sein.
»Meinen Bericht wollten sie also haben – das ist allerdings schnelle Arbeit. Na, stecken Sie den Brief in Ihre Rocktasche und erklären Sie dem Polizeipräsidenten, warum Sie ihn so zusammengefaltet haben.«
Der Mann verwahrte das Schreiben in seiner Hüfttasche und knöpfte die Klappe darüber. Sie begleiteten ihn noch ein Stück den Fahrweg entlang, blieben dann stehen und beobachteten ihn, bis er in die Hauptstraße einbog.
»Jetzt ist er sicher«, sagte Tanner. »Die haben aber aufgepaßt wie Schießhunde. Man sollte es kaum für möglich halten. Wie gut war es, daß ich Ihnen Ferraby nachschickte, es hätte sonst vielleicht doch noch einen Unfall gegeben.«
Totty wollte sich eigentlich beschweren, aber unter den gegebenen Umständen hielt er es für besser, zu schweigen.
Als sie in die Halle traten, war der große Raum vollkommen leer. Aber gleich darauf erschien Gilder. Er mußte schnell gelaufen sein, denn er war ganz außer Atem. Sein dünnes Haar, das er für gewöhnlich sauber nach hinten gebürstet hatte, hing in die Stirn, und sein Gesichtsausdruck war müde und angestrengt.
»Hallo!« rief Tanner. »Was ist denn mit Ihnen passiert?«
Der Mann schluckte.
»Ich bin in meinem Zimmer eingeschlafen – das hätte eigentlich nicht vorkommen dürfen. Ein wüster Traum hat mich aufgeschreckt.«
»Ist der Boden in Ihrem Zimmer eigentlich feucht?«
Tanner betrachtete die nassen Schuhe des Mannes und bemerkte einige Grashalme an den Absätzen. Gilder sah auch auf seine Füße, dann grinste er den Beamten an.
»Vor kurzer Zeit bin ich nach draußen gegangen, um eine Zigarette zu rauchen.«
Der Diener wollte sich entfernen, aber Tanner rief ihn zurück.
»Haben Sie etwas von Motorrädern geträumt?«
Gilder schüttelte den Kopf.
»Nein, ich träumte von« – er machte eine Pause – »Erdbeben.«
»Ich muß den Kerl tatsächlich bewundern«, meinte Tanner, als der Amerikaner gegangen war. Er setzte sich an den Schreibtisch der Lady Lebanon, nahm einen Bleistift und klopfte nachdenklich damit gegen sein Kinn.
»Mrs. Tilling ist auch ein Problem. Fahren Sie mit dem Polizeiauto zu dem Haus des Parkwächters und bringen Sie die Frau ins Dorfgasthaus. Aber reden Sie nicht darüber. Zwei unserer Beamten sind dort untergebracht. Sagen Sie einem, daß er auf sie aufpassen soll.«
»Wenn sie aber das Haus nicht verlassen will?«
»Dann nehmen Sie sie in die Arme, aber vorsichtig«, fügte Tanner etwas ironisch hinzu. »Alles hat einmal ein Ende. Wir können jetzt keine Rücksicht mehr auf sie nehmen. Wenn sie nicht mitkommen will, schlagen Sie ihr eins über den Kopf, aber behutsam, und bringen sie zum Gasthaus.«
Totty ließ sich von dem Chauffeur des Dienstautos zu seinem Bestimmungsort fahren.
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