105 - Das indische Tuch
Tür hineingekommen ist.«
»Wer wohnt denn daneben?«
»Der Raum wurde immer von Amersham benutzt, es ist ein Fremdenzimmer«, erklärte Ferraby, als sie zusammen zum Schloß zurückfuhren. »Die Wände sind ganz mit Eichenpaneel bedeckt, und jede einzelne Füllung kann zu gleicher Zeit eine Geheimtür sein.«
»Und welcher Raum liegt auf der anderen Seite?« fragte Totty interessiert.
»Das Zimmer des alten Lords, in dem Miss Crane schläft. Ich habe mit Kelver über die Sache gesprochen, und der kennt das Haus. Aus reiner Neugierde hat er eines Tages die Innen- und Außenmaße in den Zimmern genommen und daraus die Stärke der Mauern berechnet. Zwischen dem Raum, den Lady Lebanon nicht öffnen will, und dem Zimmer, in dem Miss Crane schläft, muß die Wand über einen Meter stark sein. Aller Wahrscheinlichkeit nach liegt ein Geheimgang in der Mauer.«
Ferraby lehnte sich vor und sprach zum Chauffeur.
»Halten Sie einen Augenblick an. Sehen Sie, dort ist das Fenster zu dem verschlossenen Raum – das vierte von links –« Ferraby brach plötzlich ab, denn das Fenster wurde hell. Die Scheiben bestanden jedoch aus Milchglas, so daß man nicht hindurchsehen konnte.
Ferraby sprang aus dem Wagen, Totty folgte. Sie liefen quer über den Rasen, bis sie unmittelbar unterhalb des Fensters standen. Kurz darauf sahen sie oben eine Gestalt, konnten aber nicht erkennen, wer es war. Langsam bewegte sich der unheimliche, dunkle Schatten, dann erlosch das Licht wieder.
22
Die beiden sahen einander verblüfft an.
»Das scheint ja ein ganz verhextes Haus zu sein«, sagte Totty, der vor Erregung schwer atmete.
»Geben Sie mir Ihre Taschenlampe.«
Ferraby nahm sie und beleuchtete die Mauer. Kein Fenster war unter dem geheimnisvollen Raum angebracht; die Mauer schien vollkommen massiv zu sein.
»Sehen Sie einmal her!« rief Ferraby plötzlich und fuhr mit einem Bleistift die Fugen zwischen den Steinen entlang. »Das ist kein Mörtel, das ist eine Stahlplatte, die nur so bemalt ist, als ob sie Mauerwerk wäre. Hier haben wir eine Tür.«
Er zog ein Messer aus der Tasche, öffnete es und suchte nach einer Ritze. Zunächst hatte er keinen Erfolg, aber endlich fand er eine Vertiefung. Als er das Messer hineinschob, hörten sie ein feines Klicken, und ein kleiner Teil der Wand öffnete sich wie ein Kastendeckel. In der Öffnung entdeckten sie eine Türklinke. Ferraby drückte sie herunter und zog daran, aber sie mußte von innen verschlossen sein.
»Na, wollen Sie hier das Haus reparieren?«
Ferraby drehte sich um und sah Mr. Gilder, der ihnen geräuschlos nachgeschlichen war. Er hätte ihn im Dunkeln nicht erkannt, wenn der Mann nicht gesprochen hätte.
»Was haben Sie denn gefunden?« fragte Gilder interessiert und schaute Ferraby über die Schulter.
Als er im Schein der Taschenlampe die Türklinke sah, schrak er zusammen.
»Donnerwetter!« rief er, ehrlich überrascht.
Ferraby schob die eiserne Klappe wieder zu, und die Feder schnappte ein.
»Das ist ja merkwürdig«, meinte Gilder.
»Eben haben wir oben Licht gesehen«, erwiderte Totty. »Wer ist denn in dem bewußten Zimmer?«
Gilder schaute hinauf.
»Wahrscheinlich Brooks. Lady Lebanon verwahrt eine Menge Briefe dort, und zwar ihre Privatkorrespondenz, die die Polizei nicht sehen soll. Selbstverständlich will sie die beiseite schaffen, bevor Mr. Tanner das Zimmer durchsucht. Es kann eigentlich niemand anders als Brooks gewesen sein. Was passiert denn eigentlich unten im Dorf?«
»Dort ist alles ruhig. Wenn Sie etwas Neues wissen wollen, müssen Sie schon morgen die Zeitung lesen, aber die Presse erfährt auch nichts. Wo ist denn Mylady? Schon zu Bett?«
»Nein, als ich sie eben sah, spielte sie mit dem jungen Lord Mühle im Salon – den Raum haben Sie noch nicht gesehen. Er ist das einzige Zimmer, in dem sie zur Zeit ungestört sein können.«
Ferraby und Totty traten ins Haus und waren froh, als Gilder ihnen einen Whisky-Soda brachte und das Feuer anschürte, denn der Abend war ziemlich kalt und naß.
Tanner telefonierte nach Scotland Yard und gab ausführliche Auskünfte. Die Lage war so gefährlich geworden, daß er nicht warten konnte, bis der Kurier ankam. Er brauchte Hilfe von der Polizeidirektion.
Der Chefinspektor beendete seine Arbeit, drehte das Licht aus und ging zu Ferraby. Totty war inzwischen die Treppe hinaufgegangen, um die Tür zu dem geheimnisvollen Raum zu untersuchen. Gleich darauf kam er zurück und meldete, daß er nichts weiter
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