105 - Das indische Tuch
auf Isla, die sich inzwischen ein wenig gefaßt hatte.
»Ich brauche Sie nicht«, sagte sie verstört. »Gehen Sie nach oben – ich brauche Sie nicht …«
»Ist etwas passiert, Miss?« fragte der Diener.
»Nein … nichts. Ich …« Sie wandte sich an Totty. »Ich möchte in mein Zimmer zurückgehen. Bitte, begleiten Sie mich dorthin.«
Er ging vor ihr die Treppe hinauf. Auf dem Weg sprach sie nichts, verschwand auch stumm im Zimmer des alten Lords, machte die Tür zu und drehte den Schlüssel von innen um.
Gilder beobachtete den Vorgang.
»Die junge Dame ist ein wenig nervös geworden.«
»Wissen Sie, worüber sie sich aufgeregt hat? Grinsen Sie doch nicht so, die Sache ist wirklich zu ernst.«
»Wenn ich nicht ab und zu einmal grinsen könnte«, entgegnete Gilder kühl, »würde ich in diesem Haus verrückt werden. Mir kommt es ganz natürlich vor, daß sie aufgeregt ist. Das geht uns allen so. Brauchen Sie mich noch?«
Totty antwortete nicht darauf; er ging in Kelvers Zimmer zurück. Der Butler goß sich gerade ein Glas Kognak ein, aber seine Hand zitterte so sehr, daß der Flaschenhals gegen das Glas schlug.
»Was kann sie denn nur gesehen haben?« fragte der Sergeant, der immer noch nicht wußte, was er zu dem Vorfall sagen sollte.
»Ich möchte mit der ganzen Sache nichts zu tun haben. Wollen Sie sich nicht auch einen kleinen Napoleon einschenken?«
Totty folgte der Aufforderung, obwohl er sonst um diese Zeit nicht zu trinken pflegte. Dann suchte er seinen Vorgesetzten und fand ihn in einem kleinen Wohnzimmer, in das man einen Schreibtisch gesetzt hatte. Außerdem war der Raum insofern von Vorteil, als sich einer der drei Telefonapparate darin befand.
»Die Sache kommt mir immer geheimnisvoller vor«, sagte der Sergeant. »Miss Crane muß irgend etwas gesehen haben. Natürlich kann es auch der amerikanische Diener gewesen sein, vor dem sie solche Angst hatte.«
Tanner schüttelte den Kopf.
»Übrigens will Lord Lebanon in den Ort gehen«, erwiderte er. »Ich möchte Sie bitten, ihn dorthin zu begleiten. Es wäre aber gut, wenn Sie eine Schußwaffe einsteckten. Nehmen Sie auch einen Gummiknüppel mit. Ich glaube zwar nicht, daß etwas passieren wird, aber man kann niemals etwas voraussagen.«
»Warum will er denn ins Dorf gehen?«
»Er will Mrs. Tilling aufsuchen. Sehen Sie zu, daß er den Fahrweg benützt. Der junge Lord hat eben erst gehört, daß der Parkwächter verschwunden ist, und er möchte den Fall aufklären. Also, sorgen Sie dafür, daß er den Fahrweg entlanggeht und nicht quer durch den Park. Wenn Sie sich fürchten, gebe ich Ferraby den Auftrag, ihn zu begleiten.«
Totty fühlte sich verletzt.
»Haben Sie schon jemals gehört, daß ich mich fürchte? Und wer sollte denn im Park einen Angriff auf zwei erwachsene Männer machen? Ich glaube, Sie sehen auch schon Gespenster.«
»Nein. Aber seien Sie nicht so selbstbewußt, Totty. Der Weg durch den Park ist ziemlich gefährlich. Machen Sie sich auf alles gefaßt!«
Trotz seiner langen Erfahrung im Dienst überlief den Sergeanten doch ein kalter Schauer, als er diese Worte hörte.
»Sie machen mir allerdings wenig Mut. Gibt es denn im Park ein Versteck? Glauben Sie, daß sich der Mörder noch dort aufhält?«
Tanner nickte.
»Ja, er ist noch in der Gegend«, erwiderte er ernst. »Ferraby kann ja mit Ihnen gehen –«
»Reden Sie doch keinen Unsinn«, sagte Totty brummig.
»Vergessen Sie nicht, daß Sie Lord Lebanon zu beschützen haben«, ermahnte ihn Tanner, als er das Zimmer verließ. »Wenn ihm etwas zustößt, sind Sie verantwortlich dafür. Nehmen Sie also vor allem eine Schußwaffe mit. Aber Sie dürfen sie erst dann benützen, wenn Ihnen jemand ein Seidentuch um die Kehle schlingt. Und dann wird es wahrscheinlich zu spät sein.«
»Will denn jemand dem jungen Lord etwas tun?«
»Das weiß ich nicht. Aber es wird keinem von Ihnen beiden etwas zustoßen, wenn Sie meine Vorschriften befolgen. Ich meine es diesmal vollkommen ernst.«
Willie Lebanon wartete in der Halle auf Totty. Er war noch ganz empört über die Ermahnungen, die Tanner ihm kurz vorher gegeben hatte.
»Ich lasse es mir nicht gefallen, daß man mich wie ein kleines Kind behandelt! Wenn jetzt auch noch Scotland Yard so tut, als ob ich eine Wärterin nötig hätte, könnte man doch wirklich aus der Haut fahren.«
Trotzdem war er froh, daß er Gesellschaft hatte, denn Totty gefiel ihm. Zusammen gingen sie den dunklen Fahrweg entlang, und Totty war auf
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