1086 - Der Vampir und der Engel
genau zugehört, was ihm die junge Frau erzählt hatte. Sie hatte nicht nur von einer indirekten Gefahr gesprochen, sondern auch von einer direkten und ihn deshalb sehr genau beschrieben. Bill Conolly brauchte nur einen Blick auf den Mann zu werfen, um zu wissen, daß er es war, der das rollende Restaurant betreten hatte.
Hochgewachsen. Dunkel gekleidet, war er nicht nur da, sondern verbreitete eine gewisse Präsenz, die nur den Personen zu eigen ist, die es gewohnt sind, als Siegertypen aufzutreten. Wenn derartige Leute einen Raum betreten, sind alle anderen sofort in den Hintergrund geschoben, dann gibt es praktisch nur sie und ihre Aura.
Das war hier nicht anders. Bill kannte auch seinen Namen. Ezra York blieb neben der Tür stehen und schaute in den Wagen hinein. Die Hände hatte er in die Taschen seiner Hosen geschoben und dabei den Mantel etwas zurückgedrückt. Es sollte cool und lässig wirken, was ihm nicht so ganz gelang, denn dieser kalte Hauch von Gefahr konnte einfach nicht vertrieben werden.
Bill hatte genügend dieser Typen gesehen, um das beurteilen zu können.
Seine angespannte Haltung war Estelle Crighton nicht verborgen geblieben. Zunächst hatte sie nichts gesagt, dann fragte sie ihn mit leiser Stimme: »Was ist denn los?«
Bill hatte sich wieder gesetzt. »Drehen Sie sich mal sehr langsam um und sagen Sie mir dann, was Sie sehen.«
Sie tat es nicht sofort und warf zunächst einen Blick in seine Augen. Bill blieb ruhig und hielt den Mann an der Tür unter Kontrolle. Der schaute durch den Wagen, um jeden Gast möglichst sehen zu können. Bestimmt hatte er Estelle entdeckt, die sich auf dem Sitz vorsichtig drehte, um zum Eingang schauen zu können.
Noch in der Bewegung schrak sie zusammen. Für einen Moment wurde sie steif, dann drehte sie sich wieder zu Bill hin und nickte heftig. »Ja, das ist er! Verdammt noch mal, er ist es!«
»Gut!«
»Nein, wieso gut?« Sie beugte sich vor. »Sie müssen ihn doch auch gesehen haben. Wie können Sie ihn da nur als gut ansehen?«
»Das ist etwas anderes.«
»Jetzt ist er weg!« sagte Bill.
Estelle wirkte erleichtert. »Gut«, murmelte sie. »Ich habe schon gedacht, daß er mich holen würde.«
»Das kann er nicht riskieren. Es sind einfach zu viele Menschen hier.«
»Und trotzdem liegt die Nacht noch vor uns«, flüsterte sie. Es war zu sehen, daß Estelle wieder erschauerte. Sie senkte den Blick und starrte in die leere Kaffeetasse. »Er will mich, das weiß ich genau. Nur mich. Er will das Blut einer jungen Frau. Das ist wie in der Dracula-Geschichte. Da hieß sie Lucy. Und heute heißt sie eben Estelle. Aber Blut ist Blut.«
Bill winkte ab. »Dazu gehören immerhin zwei.«
»Der schafft das«, sagte sie leise. Sie drehte sich noch einmal um. »Glauben Sie, daß er mich entdeckt hat?«
»Das kann schon sein.«
»Dann muß er auch gesehen haben, daß ich mit Ihnen zusammen an einem Tisch sitze.«
»Davon gehe ich aus.«
Auf ihr Gesicht legte sich ein Ausdruck der Spannung. »Bleibt es trotzdem bei Ihrem Plan, ihn kennenlernen zu wollen?«
»Was ich mir vorgenommen habe, das führe ich auch durch. Und mich würde interessieren, warum er sich gerade Sie als Opfer ausgesucht hat. Vorausgesetzt, es trifft alles zu.«
Sie schüttelte den Kopf. »O nein, das ist zu gefährlich. Der ist uns über.«
»Haben Sie einen besseren Vorschlag?«
Estelle hob die Schultern. »Wir könnten uns ein Versteck suchen.«
»Nein, nein, vergessen Sie das. Die Nacht ist lang.«
»Und was ist, wenn wir das Gepäck holen und am nächsten Bahnhof aussteigen? Es wäre eine Möglichkeit.«
»Schon. Glauben Sie nur nicht, daß wir damit in Sicherheit sind. Wenn Ezra York wirklich Ihr Blut will, dann wird er sich auch durch eine derartige Aktion nicht aufhalten lassen. Ich weiß, wovon ich rede, glauben Sie mir.«
»Das hört sich an, als wären Vampire nichts Neues für Sie. Ich will ehrlich sein, Bill. Ich habe mich über Sie gewundert, denn Sie haben sowieso wenig Überraschung gezeigt und auch nicht versucht, mich von meiner Meinung abzubringen.«
Bill lächelte etwas schief. »Stimmt genau.«
»Und warum haben Sie das getan?«
»Weil ich Ihnen glaube.«
»Einfach nur so?«
»Nein.« Er gab keine andere Erklärung ab, sondern gab dem Ober ein Zeichen, der sofort an den Tisch kam. »Wir möchten zahlen.«
»Ja, sofort.« Er verschwand, um die Rechnung zu holen.
Estelle Crighton stierte vor sich hin. Bill hätte gern gewußt, was sie dachte. Positive
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