1086 - Der Vampir und der Engel
Gedanken waren es sicherlich nicht.
Der Ober kehrte zurück, und Bill beglich die Rechnung. Der Kellner wünschte ihnen noch eine gute Reise und eine angenehme Nacht.
»Kann sein, daß wir uns noch mal sehen«, sagte Bill.
»Würde mich freuen, Sir.«
Sie standen auf. Estelle wartete, bis der Reporter dicht an sie herangekommen war, um ihm nur einen Satz ins Ohr flüstern zu können. »Ich habe Angst…«
***
Der Speisewagen und damit die recht fremde Welt des Zugs lang hinter ihnen. Jetzt bewegten sie sich wieder durch die normalen Waggons, die schmalen Gänge. Vorbei an den Abteilen, die wie Schachteln wirkten, in denen es sich die Reisenden bequem gemacht hatten.
Vor manchen Scheiben waren die Vorhänge gezogen worden. Andere zeigten sich offen und ließen Blicke in die einzelnen Abteile zu, die nie ganz gefüllt waren.
Bill hatte die Führung übernommen. Estelle ging hinter ihm und hatte seine Hand ergriffen. Er spürte, daß ihre Furcht zunahm, je näher sie dem Abteil kamen.
Bill blieb stehen. »Ich werde das Abteil als erster betreten.«
»Ja. Und dann?«
»Wird sich alles entwickeln.«
Estelle mußte lachen. »O Gott, wie Sie das sagen. Das ist Irrsinn. Sie unterschätzen noch immer die Gefahr.«
»Abwarten.«
»Aber das ist kein Kino, Bill. Das ist die verdammte Wirklichkeit.«
»Ich weiß.«
»Bitte, Sie brauchen nicht den Helden zu spielen. Nicht für mich. Ich stehe nicht darauf.«
»Es hat mit Heldentum nichts zu tun, Estelle. Ich denke nur, daß wir Menschen auch eine gewisse Courage zeigen müssen. Wir können uns aus Angst nicht immer verkriechen. Das ist nicht gut, glauben Sie mir.«
»Vielleicht habe ich bisher falsch gelebt, um so denken zu können«, sagte sie.
Vor ihnen wurde eine Abteiltür geöffnet. Ein älterer Mann, der in seinem dicken Pullover schwitzte, schob sich heraus und drängte sich an ihnen vorbei.
Für Bill war diese Bewegung so etwas wie ein Startsignal. Er nahm Estelles Hand und zog sie weiter.
Rechts lagen die Fenster. Hinter den Scheiben huschte wieder die Landschaft des südlichen Schottlands vorbei. Sie war bergig, romantisch für viele. Die wenigen Orte verloren sich in dieser Umgebung.
Bill Conolly gestand sich ein, daß er längst nicht so cool war wie er sich gab. Wenn Estelle recht behielt und diese Gestalt wirklich ein Vampir war, dann bedeutete er eine tödliche Gefahr. Nicht nur für Estelle, sondern für alle Reisenden in diesem Zug. Der Blutdurst dieser Wesen konnte sehr extrem werden.
Eine Tür vor Estelles Abteil blieben sie stehen. Bill beugte sich dem Gesicht der jungen Frau entgegen und nahm ihren weichen Geruch wahr. Nach Lavendelblüten. Er war etwas irritiert, gab aber keinen Kommentar ab, sondern sagte: »Bleiben Sie ruhig. Lassen Sie mich zuerst das Abteil betreten.«
»Ja, schon gut.«
Bill lächelte ihr noch einmal zu. In seinem Nacken hatten sich Schweißtropfen gesammelt. Zwei davon liefen als kalte Perlen über seinen Rücken hinab.
Der Vorhang war nicht zugezogen worden. Im Abteil wirkte das Licht gemütlich, weil sie Deckenleuchte ausgeschaltet war und nur die Lampen über den Sitzen brannten. Auch sie waren nicht alle eingeschaltet. Ein Vampir mochte eben keine Helligkeit.
Es waren zwei Schritte, die Bill bis an die Tür brachten. Er ging recht langsam, aber nicht zu zögernd.
Der erste Blick durch die Tür!
Bill hatte einiges erwartet, aber nicht das, was er tatsächlich sah. Das Abteil war leer. Niemand saß in den Sitzen. Kein Ezra York und auch kein weiterer Fahrgast.
Hinter seinem Rücken hörte er Estelle Crighton atmen. Sie wollte eine Erklärung und wartete voller Spannung darauf. Sie bekam sie auch und schüttelte verständnislos den Kopf, als ihr Bill erklärte, was er gesehen hatte.
»Dann muß er im Zug unterwegs sein, denn ich glaube nicht, daß er ausgestiegen ist.«
»Das meine ich auch.«
Sie konnte lächeln. Sie fühlte sich erleichtert. »Dann schlage ich vor, daß wir meinen Mantel und den Koffer nehmen, um zu verschwinden. Die Chance bekommen wir nicht zweimal.«
»Das wollte ich ebenfalls vorschlagen. Sie bleiben bei mir.«
»Wunderbar.«
Bill war froh, daß es zu keiner Konfrontation gekommen war. Er zog die Abteiltür normal auf. Der Schritt hinein, dann der zweite. So schuf er Platz für Estelle Crighton, die ihm auf dem Fuß folgte.
Ihr Gepäck lag auf der oberen Ablage. Der Mantel hing noch am Haken. Es sah alles normal aus.
Doch wollte Bill dem Frieden nicht trauen. Er wußte selbst
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