1086 - Der Vampir und der Engel
weit schaffte es Bill nicht, weil ihn der Schwindel immer wieder überkam, aber er war schon froh, sich hinknien zu können.
Die rechte Hand brauchte er. Mit der linken fand er eine Stütze. So konnte er wieder an die Waffe heran.
Es ging ihm schlecht. Noch immer kam er sich wie in einem schaukelnden Boot bei hohem Wellengang vor. Seine Bewegungen liefen nur überaus langsam ab, und der Vampir hatte Zeit genug, sich um die Frau zu kümmern. Ihr Blut wollte er trinken. Zuerst sie, dann Bill.
Beide befanden sich noch im Abteil, denn Ezra hatte sich Estelle regelrecht geholt und zu sich gezerrt. Er hielt sie mit beiden Händen fest, obwohl sie sich wehrte.
Sie schlug um sich. Sie trat. Sie traf auch, doch ein Vampir spürte keine Schmerzen. Diese Erfahrung mußte auch Estelle machen, denn sie erzielte keinen Erfolg. Hier kämpfte der Riese gegen einen Zwerg. Auch Bill kam die Gestalt übergroß und unbesiegbar vor.
Er machte trotzdem weiter.
Seine Hand kroch auf die Waffe zu. Die Wellen der Übelkeit waren noch da, und zum Glück nicht mehr so stark. Er hatte sich wieder in der Gewalt, und als seine Finger über das kalte Metall der Waffe glitten, da fühlte er sich besser.
Menschen schoß er nicht in den Rücken.
Vampiren schon!
Auch Blutsauger haben am Rücken keine Augen. Es war wohl mehr Zufall und Instinkt, daß sich Ezra York drehte. Und das genau in dem für ihn richtigen Augenblick.
Bill hatte die Beretta schon hervorgeholt, da erwischte es ihn. Mit einer Hand hielt Ezra sein Opfer fest, dessen Kehle zusammengepreßt würde, die andere griff nicht ein, denn der Vampir nahm seinen Fuß.
Er trat zu.
Die Entfernung war günstig.
Bill spürte den Hammerschlag am Kinn und am Hals. Plötzlich waren die Sterne wieder da. Er wurde zurückgeschleudert und hatte zugleich den Eindruck, sich in einem Kreisel zu befinden, der ihn weit, weit weg schleuderte.
Sein letzter Gedanke galt Estelle Crighton. Er hatte versprochen, sie zu beschützen, und er hatte das Versprechen nicht einhalten können. Dann wurde es schwarz um ihn…
***
Estelle Crighton hatte gesehen, wie schlecht es Bill Conolly ging. Sie wußte, daß sie nicht viel machen konnte.
Der kalte Griff der Finger würgte sie noch immer und drückte ihr die Luft ab. Aber in ihr steckte der Mut der Verzweiflung, und der wiederum animierte sie zum Angriff. Daß Schlagen keinen Sinn hatte, war ihr ebenfalls klar, einer wie York spürte keine Schmerzen.
Sie wehrte sich anders. Er hatte Augen.
In sie stach sie hinein.
Estelle hatte dabei Glück. Zumindest das rechte Auge wurde hart getroffen, und das brachte den Blutsauger aus dem Konzept. Er röhrte auf, er schüttelte noch den Kopf und kümmerte sich nicht mehr um Bill Conolly. Auch der Druck an Estelles Hals lockerte sich. Mit einer heftigen Drehbewegung befreite sie sich.
Daß sie gegen den Wiedergänger nicht ankam, stand für sie fest. Sie persönlich konnte auch für Bill Conolly nichts tun, aber sie wollte auch nicht zu einer Beute werden und in das Reich der Schatten einsinken. Hilfe war wichtig. Ob vom Schaffner oder von einem anderen Fahrgast. Beide gab es nicht hier im Abteil.
Estelle warf sich herum.
Plötzlich war sie frei. Sie sprang nach draußen, prallte gegen die Scheibe, drehte sich dann und wollte weg.
York hatte sich wieder fangen können. Wie ein mächtiger Schatten huschte er aus der Abteiltür. Der lange Gang war leer. Die Menschen hielten sich in den Abteilen auf. Niemand stand an einem der Fenster, um in die Landschaft zu schauen.
Estelle kam drei Schritte weit.
Da hing er plötzlich in ihrem Nacken. Wäre das Abteil neben ihr nicht leer gewesen, hätte Estelle vielleicht noch eine Chance gehabt, weil man sie dann hätte sehen können. Aber niemand nahm von ihr Notiz, und so hatte Ezra York leichtes Spiel.
Wuchtig zerrte er sie zurück, und sie prallte gegen ihn. Sein Arm glich dem eines Kraken und legte sich so um ihren Körper, daß er die Arme mit einklemmte.
Die zweite Hand drückte gegen ihren Mund. Sie war so widerlich kalt. Der Druck raubte ihr die Luft, und dann hörte sie die widerliche Stimme. »Wir haben Zeit, Süße, seht viel Zeit. Und ich kenne einen Ort, an dem uns keiner stören wird.«
Brutal zog York sie zurück. Die zweite Zugtoilette des Wagens lag nicht weit entfernt. Er hatte recht. Dort würden sie wirklich ihre Ruhe haben, die Ruhe des Todes…
***
Bill Conolly fand sich auf dem Boden des Abteils wieder, zwischen den Sitzen, die sich rechts und
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