1088 - Killer in der Nacht
dabei in den Flur hinein. Sie sah ihn, aber sie sah auch, wie er sich bewegte. Er wurde für sie zu einem mit Wasser gefüllten Kanal, über dessen Oberfläche der Wind strich und sie in ein Wellenmuster verwandelte. Den festen Untergrund hatte sie verloren. Sie schwankte hin und her, tauchte ein, kam wieder hoch, und die dunklen Schatten vor ihren Augen nahmen zu. Intensiver wurden sie, viel dichter. Die Schmerzen mußten noch vorhanden sein, doch Estelle spürte sie nicht mehr. Sie glitt immer weiter auf die Schwelle zu, die das Leben vom Tod trennte. Ihr öffnete sich bereits eine andere Welt. Zu begreifen war das nicht mehr. Die Bilder bewegten sich. Sie verschwammen ineinander, aber sie verloren die Schwärze und nahmen pastellartige Farben an. Estelle glaubte auch, Stimmen zu hören, und eine war besonders laut, obwohl sie nur flüsterte. Aber sie überlagerte all die anderen.
»Ich habe dir nicht mehr helfen können. Ich sagte es schon. Es tut mir so leid für dich…«
Der Schutzengel hatte es geschafft, noch einmal einen Kontakt aufzunehmen. Obwohl er Estelle eine Abfuhr erteilt hatte, schaffte sie es noch, den Arm zu heben und die Hand auszustrecken. Sie griff nach vorn, als wollte sie das Wesen fassen.
Aber sie griff ins Leere.
Den dritten Stich bekam sie nicht mehr mit. Da war sie bereits von der anderen Welt geholt worden.
Ihr Körper wurde starr für immer. Der Kopf lag auf der Seite, aber auf ihren Lippen sah jeder das feine, verloren wirkende Lächeln…
***
Ich war nicht eingesunken. Ich stand nur einfach da. Ich war in einen Zustand hineingeraten, den ich selbst nicht beschreiben konnte. So leer, so ausgesaugt, als wäre mir die Seele genommen worden und der Körper als funktionierende Hülle zurückgeblieben.
Vor mir lag der Flur.
Und nur zwei Schritte entfernt lag eine Person auf dem Bauch und rührte sich nicht mehr. Es war Estelle Crighton. Ihr Rücken sah ähnlich aus wie der des Caspar Wayne, und die Lache aus dunklem Blut vergrößerte sich immer mehr.
Eigentlich bluten Tote ja nicht, dachte ich, aber die Tat mußte erst vor wenigen Sekunden geschehen sein, und ich sah den Mörder nicht. Weder das Messer, noch die verdammte Messerhand, die die Waffe führte.
Ich starrte nur auf Estelle.
Der Schutzengel hatte sie verlassen.
Sie war auf sich gestellt. Zweimal hatte er sie retten können. Ein drittes Mal war es nicht passiert.
Das hatten sie und ich vorher gewußt, und trotzdem war es furchtbar, das zu sehen.
Ich hatte sie gemocht. Ich spürte den Druck hinter meinen Augen. Einige Male zog ich die Nase hoch, aber es entstanden doch Tränen. Wieder einmal war ich so hautnah, mit dem Tod konfrontiert worden und merkte wie schmal die Schwelle zwischen Leben und Tod war.
Ich verfluchte innerlich die Wirklichkeit, die so brutal sein konnte, und dann ging ich langsam vor.
Jetzt war es mir egal, ob der Killer in der Nähe lauerte. Das zweite Ich der Christa Evans würde es bestimmt auch bei mir versuchen und…
Meine Gedanken wirbelten zu stark durch den Kopf. Ich kniete neben Estelle nieder.
Das Gefühl, der Verlierer zu sein oder völlig versagt zu haben, wurde in mir zu einer Folter.
Ich strich zart über Estelles Wange. Die Haut war noch nicht kalt geworden. Die Augen standen offen, aber ich übersah auch nicht das Lächeln auf ihrem Gesicht. Noch während des Todes mußte Estelle Crighton etwas Wunderschönes gesehen haben. Möglicherweise war ihr der Blick ins Paradies gelungen, was für mich beileibe kein Trost war, denn ich hätte stärker an sie denken sollen.
Ich schloß ihre Augen. »Okay, Estelle, es tut mir leid. Aber das Schicksal lief anders…« Plötzlich konnte ich nicht mehr sprechen und brachte nur noch ein »Oh, verdammt« hervor.
Dann richtete ich mich auf.
Dabei verwandelte sich mein Gefühlsleben. Das andere Extrem kehrte zurück. Es fing an mit der Gänsehaut, die über meinen Rücken hinwegkroch, und ich holte scharf durch die Nase Luft.
Meine Augen brannten, trotzdem sah ich alles klar und scharf vor mir. Es gab für mich eine Zukunft, das stand fest, und diese Zukunft mußte mir einen Erfolg bringen.
Der Killer durfte nicht mehr frei herumlaufen. Er war kein Mensch, er war das böse Ich einer Frau, deren Seele in zwei Hälften gerissen war.
Ich drehte mich wieder um.
Bis zur Wohnung dieser Christa Evans war es nicht weit. Ich suchte den Schatten, das Messer, das plötzlich aus seinem feinstofflichen Zustand in den festen hineinglitt, um diese
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