109 - Die Atemdiebin
müssen, damit er sie begleitete. Der Kerl war derart von sich und seinem Auftreten überzeugt, dass es ihm ganz natürlich vorkam, wenn ihm die Frauen hinterher rannten.
»Soll bloß vorsichtig sein, der fette Wirt«, ließ er die Ereignisse Revue passieren. »Wenn ich plötzlich hinter ihm steh un 'ne Eisenstange über sein Schädel zieh, nützt ihm sein Flitzebogen auch nix mehr.«
Pausenlos vor sich hin brabbelnd, entsann er immer neue Methoden der Rache. Erst sollte nur der Wirt langsam und qualvoll sterben, dann auch die Schankmagd, und schließlich alle Gäste, die dabei gewesen waren.
Sein Gerede verursachte Amelie Übelkeit, doch sie unterdrückte den Ekel vor ihm und dem Gestank, den er verströmte. Sie hatte keine andere Wahl; ein besseres Opfer fand sie heute Nacht nicht mehr. Und es musste heute sein! Sie hatte schon viel zu lange gewartet.
Sie konnte es an den Runzeln sehen, die bereits tief in ihre Haut einschnitten. Und sie spürte es tief in den Eingeweiden.
Das nagende Gefühl der Schwäche, das sie auszuzehren drohte.
Sie brauchte die Lebenskraft eines anderen, um den wütenden Hunger zu stillen, der sie quälte und schwächte. Den Atem, wie es die Barbaren ausdrückten.
Eine gute Metapher, das musste sie zugeben. Auch dass man sie des Diebstahl bezichtigte. Denn das, was sie ihren Opfern entriss, war keine Leihgabe. Sie konnte es nicht zurückgeben, sosehr sie auch die Reue überkam, sobald sie wieder gekräftigt war.
»Da vorne!«, unterbrach sie Golluk und deutete auf eine links abzweigende Gasse.
Der Hüne kicherte. »Du kannstes wohl gar nich mehr abwarten, häh?«
Statt zu antworten, zog sie ihn einfach mit. Der rasche Kurswechsel brachte ihn aus dem Konzept. Golluk stützte sich schwer auf sie, aber trotz ihrer Schwäche hielt Amelie dem Gewicht stand.
Die von Schlingkraut und Ranken bewachsene Gasse erstreckte sich so dunkel und menschenleer wie erhofft. Hier standen die Ruinen so dicht beieinander, dass der Mondschein kaum bis zum Boden reichte. Es war so dunkel, dass sie über eine Wurzel stolperte, die das Steinpflaster aufgeworfen hatte.
Liion glich in weiten Teilen einer Geisterstadt. Die Menschen, die sich in den Ruinen eingenistet hatten, hielten meist viel Abstand zueinander. Ein besseres Jagdrevier konnte sie sich kaum wünschen. Das war einer der Gründe, warum es sie in dieser Gegend hielt. Andererseits hoffte sie auch immer noch, mehr über sich und ihre Herkunft herauszufinden.
Gut zwanzig Meter entfernt leuchtete eine einsame Öllampe in einem leeren Fenster. Die Schatten einiger Gitterstäbe verrieten, dass es sich um eine Lischettenfalle handelte. Das Licht besaß keinen großen Wirkungskreis, trotzdem musste sie ihm ausweichen.
»Hier rein, schnell.« Beinahe hätte sie den runden Torbogen übersehen. Mit der Linken schob sie einen Vorhang aus weißen, feinfaserigen Wurzeln zur Seite, die fast bis zum Boden reichten. Golluk folgt ihr bereitwillig in den Innenhof.
Sein Atem ging schwer, er hatte aufgehört zu reden.
Wahrscheinlich, weil er sich gerade ausmalte, was sie als Nächstes tun würden.
Brüchige Fassaden begrenzten den dunklen, vor Dreck starrenden Platz, den sie betraten. Dachpfannen lagen zerschlagen am Boden, gleich neben den Trümmern der abgebrochenen Balkone und der rostigen Karosserie eines Peugeot. Dass sie um die Bedeutung einer Automarke wusste, gehörte zu den Rätseln ihrer Herkunft, die weiter im Dunkeln lag. So sehr Amelie sich auch bemühte, es half nichts. Alles vor dem Zeitpunkt ihres Erwachens lag wie hinter einem milchigen Schleier, der sich nur ab und an lüftete und dabei nie mehr als ein paar verwirrende Erinnerungsfetzen freigab.
»Hier ist es gut.« Links des Durchgangs, an einer weitgehend von Unrat befreiten Stelle hielt sie an und wandte sich zu Golluk um. »Warte einen Moment.« Ihre Stimme zitterte vor Aufregung.
Irgendwo in der Höhe erklang Flügelschlag, der als Echo von den Hauswänden zurückgeworfen wurde. Dort flohen entweder Fleggen, Lischetten oder Bateras. Irgendwelches Getier, das sich in den oberen Stockwerken eingenistet hatte und nun die Anwesenheit der Menschen spürten. Und die Gefahr, die von ihr ausging.
Golluk keuchte lüstern, als sie den Pelzmantel öffnete und über die Schultern herab gleiten ließ. Kein Wunder; im Dunkeln sah es sicher so aus, als ob sie darunter nackt wäre.
Amelie wickelte auch das Tuch vom Kopf und warf es zur Seite. Befreit schüttelte sie die langen Haare aus. Zwischen
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