109 - Die Atemdiebin
ausspielte. Amelie spürte, wie sich seine kräftigen Finger in ihren fließenden Stoff krallten.
Überall dort, wo er zulangte, wurde ihm ebenfalls Energie entzogen, trotzdem zerrte er weiter an ihr. Zerrte und zerrte, bis das fließende Material überdehnte und schmatzend auseinander riss.
Amelie wimmerte leise, als würde sie am eigenen Leib verletzt. Panik keimte in ihr auf. Was, wenn es Golluk gelang, ihren Griff abzuschütteln? Oder Alaan den Kampflärm hörte, umkehrte, und sie als Atemdiebin entlarvte? Wenn die Barbaren ihr Geheimnis entdeckten, würde man sie gnadenlos jagen und wie ein Tier zur Strecke bringen.
Ihr Verstand setzte aus, und mit ihm alle Rücksichtnahme.
Von nun an herrschten ihre Überlebensinstinkte. Wie aus weiter Ferne, als wäre sie nur eine stille Beobachterin der eigenen Taten, registrierte Amelie, dass sich die Durchflussgeschwindigkeit ihres Anzugs erhöhte.
Eisig strich die Nacht über ihre nackte Schulter und den bloßen Rücken. Überall dort, wo der fließende Stoff noch fest auf der Haut saß, heizte er jedoch weiter auf und stimulierte jede Körperzellen. Sie fühlte sich von neuer Energie durchströmt, die ihr Kraft und Ausdauer gab.
Mit einem leisen Knurren warf sie Golluk herum und drückte ihn zu Boden. Seine Bewegungen gefroren, das Röcheln erstarbt. Sie konnte förmlich spüren, wie sein Gewebe unter ihren Fingern zerfiel.
Dann war auch schon alles vorbei. Das blaue Trägermaterial löste sich von seiner nutzlos gewordenen Haut.
Leblos lag er vor ihr. Ausgelaugt, verschrumpelt und zum Greis gealtert. Sie hatte es tatsächlich wieder getan. Golluk war tot.
Mit dem Ende der Speisung kam die Reue.
Entsetzt starrte Amelie auf das, was sie angerichtet hatte, und lauschte in die Gasse hinaus. Dort war alles ruhig. Keine Schritte mehr. Alaan war längst fort.
Amelie raffte Pelz und Kopftuch zusammen. Es war schon schlimm genug, mit den Selbstvorwürfen zu leben; sie hätte es nicht auch noch ertragen, Alaans anklagende Blick zu sehen.
Wie von Furien gehetzt, rannte sie über den Hof davon, durchquerte das rückwärtige Haus und kletterte durch ein Fenster auf die nächste Gasse hinaus. Den Rest ihrer Flucht erlebte sie verschwommen, wie in einem Fiebertraum. Sie lief und lief, ohne Pause, gespeist von der neuen Kraft, die durch ihren Körper pulsierte. Später konnte sie sich nicht mehr erinnern, wie lange es gedauert hatte, das Dach einer hoch aufragenden Ruine zu erklimmen.
Erst hier oben, weit über den Köpfen der anderen Menschen, kam sie zur Ruhe. Sie ließ Pelz und Kopftuch fallen und fiel auf die Knie. Der Horizont färbte sich bereits rot; die Sonne ging auf.
Es war kalt, doch das spürte Amelie nicht. Der Anzug wärmte sie. Die Risse waren auch schon kleiner geworden.
Stück für Stück wuchsen sie weiter zusammen. Vielleicht noch eine halbe Stunde, dann würde er sie wieder bis zum Hals umschließen. Es grenzte an ein Wunder. Der Anzug regenerierte, so wie er ihren stetig zerfallenden Körper regenerierte.
Nur eines konnte er nicht.
Ihre Erinnerung an jene löschen, die dafür altern oder sterben mussten.
Amelie spürte ein Würgen im Hals. Diesmal unterdrückte sie es nicht. Diesmal schrie sie ihren Schmerz laut hinaus. Und wusste doch gleichzeitig, das sie tief im Inneren froh war, noch am Leben zu sein.
***
Ein kleiner, knapp zehn Jahre alter Junge rannte die abschüssige Gasse entlang, das Gesicht vor Anstrengung gerötet. Er verschwand in einem mit Fellen und Tüchern abgespannten Bogengang, in dessen Nähe drei Andronen auf einem begrünen Trümmergelände grasten.
»Da vorne, das muss es sein!«, sagte Aruula.
Sie hatte Recht, dort lagerte Aamiens Clan. Das zeigte sich keine Minute später, als mehrere Männer und Frauen zwischen den Säulen hervortraten und dem aufgeregten Jungen Richtung Croix Rousse folgten. Blaance, die unter ihnen war, winkte erfreut herüber.
»Schnell, eilt euch!«, rief sie. »Es gibt wieder einen Toten! Er soll verschrumpelt sein wie eine Mumie!«
Matt und Aruula schlossen zu der Gruppe auf, die ihnen den Weg durch das Labyrinth der Gassen wies. Ausgebrannte Fensteröffnungen glotzten sie zu beiden Seiten wie leere Augenhöhlen an. Manche der eng beieinander stehenden Häuser waren nur noch von Wurzel- und Rankengeflecht gestützte Fassaden, andere besaßen geflickte, regenfeste Dächer und wurden bewohnt. Mehrmals ging es über brüchiges und überwuchertes Pflaster bergauf und bergab, dann eine schmale,
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