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109 - Die Atemdiebin

109 - Die Atemdiebin

Titel: 109 - Die Atemdiebin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Frenz
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tatsächlich die Stimmungen anderer Menschen erfühlen.
    Doch als Matt erneut zu der Stelle blickte, wo eben noch die Fremde gestanden hatte, war sie wie vom Erdboden verschwunden.
    »Die Frau mit den blauen Haaren – wer war das?«, fragte er Alaan, der gerade seinen Schubkarren neben Golluk platzierte.
    »Keine Ahnung«, antwortete der Lischettenfänger überraschend mürrisch. »Eine Fremde. Ich kenne nicht mal ihren Namen.«
    ***
    Immer dann, wenn der Leichentross außer Sicht zu geraten drohte, orientierte sich Amelie an den weithin sichtbaren Fühlern, die über dem Kopf der Androne wippten. Sobald die Ruinen der Stadt hinter ihr lagen, vergrößerte sie den Abstand noch etwas weiter, denn nun konnte sie sicher sein, dass es nach Geenislaaval ging, der Heimat der Technos – die Amelie so sehr fürchtete.
    Unwillkürlich kehrten die Bildfetzen zurück, die sie manchmal des Nachts in ihren Träumen quälten. Stakkatoartig blitzen von Kugelhelmen umschlossene Gesichter auf, völlig haarlos und mit bleichem Teint. Amelie wusste nicht mehr, was vor dem Erwachen geschehen war, nur dass man ihr fürchterliche Schmerzen zugefügt hatte. Die Erinnerung an ihre Pein war stets präsent, wie ein dunkles, in jeder einzelnen Zelle nachschwingendes Echo. Übelkeit stieg in ihr auf, wenn sie nur an die Gestalten in den Schutzanzügen dachte.
    Die Technos mussten ihr etwas so Schreckliches angetan haben, dass ihr Gedächtnis streikte, um sie vor weiterem Schaden zu bewahren. Alles was ihre persönliche Vergangenheit betraf, war praktisch ausgelöscht. Trotzdem verfügte sie über ein Allgemeinwissen, das weit über den Stand eines Barbaren hinaus reichte. Logik und Kombinationsgabe erhoben sie deutlich über die übrigen Bewohner der Ruinenstadt. Doch zu Anfang, kurz nach dem Erwachen, war sie nur von primitiven Instinkten beherrscht gewesen.
    Amelie erschauderte abermals, doch so sehr sie sich auch dagegen wehrte, die Erinnerung an die ersten Morde schlug bereits wie eine übelriechende Woge über ihrem Bewusstsein zusammen. Plötzlich spürte sie wieder den brennenden, alles verzehrenden Hunger in den Eingeweiden, der sie zu einer reißenden Bestie hatte werden lassen, bis auch der letzte der fünf Jäger unter ihren Händen gealtert und verdorrt war. Wie im Zeitraffer zogen die darauf folgenden Tage der geistigen Umnachtung vorüber. Verwirrt, besudelt und dem Wahnsinn nahe war sie umher getaumelt, bis sie langsam wieder Herr ihrer Sinne wurde.
    Erst nach und nach hatte der Verstand die Triebe bezwungen, und war das Wissen um Schrift und Sprache zurückgekehrt. Dass sie ihren Namen erfuhr, hatte sie einem Schild an ihren Operationstisch zu verdanken.
    Dass sie weder zu den Barbaren noch zu den Technos gehörte, sagte ihr dagegen der erwachte Verstand. Von den Eingeborenen unterschied sie die Geschwindigkeit, mit der sie Dinge erfassen und auswerten konnte. Von den Technos, dass sie ohne Schutzkleidung in der Welt herum spazierte. Was sie jedoch am stärksten von allen Gemeinschaften ausgrenzte, war ihr räuberischer Stoffwechsel und sein unersättlicher Hunger nach fremder Lebenskraft. Amelie versuchte ihn zu bezähmen, wieder und wieder, doch es gelang ihr nicht. Andere zu schädigen gehörte anscheinend zu ihrer Natur.
    Hier in Liion gab es keinen anderen ihrer Art. Niemanden, dem sie sich anvertrauen konnte, ohne befürchten zu müssen, anschließend zu Tode gehetzt zu werden. Die Technos hatten sie bereits bis aufs Blut gequält, und die Barbaren würden es tun, sobald sie herausfanden, wovon sie sich ernährte.
    Bis zum heutigen Tag war Amelie noch keinem Menschen begegnet, der ihr nur ansatzweise ähnelte. Erst die Begegnung mit Maddrax, der zivilisierte Kleidung trug, aber ebenfalls keinen Schutzanzug brauchte, hatte ihr wieder Hoffnung gegeben. Amelie erinnerte sich, wie er die winzigen Reste ihres Anzugs entdeckt und untersucht hatte. Ohne einen Funken Furcht im Blick, nur von wissenschaftlicher Neugier getrieben.
    Und dann gab es da noch das Amulett um seinen Hals, das ihrem so sehr ähnelte. Ob sie vielleicht beide dem gleichen Stamm angehörten? Aber warum hatte er ihr dann kein Zeichen des Erkennens gegeben?
    Amelie wusste es nicht, aber sie wollte es herausfinden. Sie war sogar bereit, sich dafür der gefürchteten Kuppel von Geenislaaval zu nähern. Da sie gesättigt war und sich nicht für eine Nahrungsaufnahme entkleiden musste, trug sie heute Lederhosen, Schnürhemd und Felljacke, wie eine echte Barbarin.

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