109 - Die Atemdiebin
zweifelnden Blick zu, sagte jedoch kein Wort. Damit endete das längste Gespräch, das sie seit dem Eintreffen in diesem Versteck geführt hatten.
Bereits am Nachmittag hatten sie mit Hilfe der Raben das alte Haus des Küsters gut achthundert Meter vor der frei stehenden Basilika ausgemacht. Von hohen Büschen und Schlingkraut umgeben, bot die leere Ruine, in der nicht mal mehr ein Fetzen Tapete an den Wänden hing, eine gute Basis für ihre Observation.
Bislang war alles vollkommen ruhig geblieben. Die Bewohner von Liion hatten die Anhöhe geräumt und den Witwer nebst Schwager sich selbst überlassen.
Matt musste an Lieutenant Shaw denken, der als Wache im EWAT zurückgeblieben war. Angesichts der beißenden Kälte, die langsam den Hügel hinauf kroch, schien er heute das bessere Los gezogen zu haben, doch Matt bezweifelte, dass er eine ruhige Nacht verbrachte. Sicher führte der Offizier weitere Testreihen durch, um auszuloten, zu welchem Zweck die Nanobots menschliche Energien umwandelten.
»Ich glaube, da bewegt sich was.« Corporal Farmer legte die Aufnahmen, die Digger 4 übertrug, auf den Hauptschirm. Der Kolkrabe hatte gerade aufgehört zu kreisen und steuerte nun einen abgestorbenen Baum an, der schwarz und morsch gen Himmel ragte. Er musste etwas im Dunkeln gesehen haben und versuchte nun den Ursprung zu lokalisieren.
Die Raben waren darauf dressiert, Bewegungen wahrzunehmen. Ihre tierischen Instinkte ließen sich weder von CF-Strahlung noch Störsendern ablenken, das war ein großer Vorteil.
Aufgeregt flatterte Digger 4 in der kahlen Baumkrone umher, darum bemüht, das unter ihm liegende Dickicht näher zu beäugen. Zu sehen gab es allerdings nichts. Weder für den Kolkraben noch für die Menschen am Bildschirm.
Schließlich schwang sich Digger 4 wieder in die Lüfte und begann erneut die Ruine auf dem Hügel zu umkreisen.
Farmer sah die anderen in der Runde an und zuckte mit den Schultern, um Fehlalarm zu signalisieren. Aruula war das zu wenig. Einen Zug grimmiger Entschlossenheit in den Mundwinkeln, erhob sie sich, zog ihre Fellkleidung zurecht und tastete nach dem Bihänder auf ihrem Rücken.
»Ich weiß, wo dieser Platz ist«, sagte sie knapp. »Mal sehen, ob ich mehr als der Vogel entdecken kann.«
Selina versuchte noch die Barbarin zurückhalten, war aber nicht schnell genug. Aruula war längst durch das leere Rechteck des ehemaligen Eingangs geschlüpft und mit der Nacht verschmolzen. »Kein Grund zur Sorge«, beruhigte Matt die Kommandantin, die schon Anstalten machte, hinterher zu eilen. »Aruula will sich nur ein wenig die Beine vertreten. Herumsitzen und warten ist nichts für sie.«
»Aber…«, Selina konnte seine Ruhe kaum fassen. »Was ist, wenn ihre Freundin auf die Franzosen oder den Atemdieb trifft?«
Matt grinste freudlos. »Dann kann ich für die Betreffenden nur hoffen, dass sie nicht den Kopf verlieren.«
***
Aruula schritt energisch aus, ohne sich um die Gefahren zu scheren, die im umliegenden Dunkel lauern mochten. Missmut und Rastlosigkeit vereinten sich in ihr zu einer brodelnden Mischung, die sie ungehalten machte. Verhandeln, taktieren, beobachten, Leichen untersuchen – all das war nicht nach ihrem Geschmack. Sie dürstete danach zu handeln.
Wenn jemand Ärger machte, schlug man ihn nieder. Wenn er ein Geheimnis verbarg, packte man ihn an der Kehle und schüttelte ihn solange am ausgestreckten Arm, bis er darum bettelte, alles ausplaudern zu dürfen, So wurden Probleme gelöst, nicht indem man einen Bildschirm anstarrte und die Welt durch die Augen eines Raben sah.
Die Bewegung tat ihr gut. Sie minderte ihren Zorn, auch wenn er dadurch nicht völlig verrauchte.
Was Aruula bei all dem am meisten schmerzte, war die Art und Weise, wie Maddrax sich verhielt. Je länger er unter den Technos von Landän weilte, desto zivilisierter wurde er. Und verlor dabei wieder all die Instinkte, die er zuvor unter ihrer Obhut erworben hatte. Wenn Maddrax doch nur begreifen würde, dass der direkte Weg stets den verschlungenen Pfaden vorzuziehen war!
Je mehr Aruula ins Grübeln geriet, desto langsamer und bedächtiger wurden ihre Schritte. Ohne dass es ihr bewusst wurde, lauschte sie stärker in die Umgebung und achtete auf verdächtige Bewegungen in der Dunkelheit. Gut fünfzehn Minuten schlich sie auf diese Weise durchs Unterholz, bis sie den abgestorbenen Baum entdeckte, auf dem der Kolkrabe gesessen hatte. Von nun an konzentrierte sie sich voll und ganz auf die Umgebung.
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