Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
109 - Die Atemdiebin

109 - Die Atemdiebin

Titel: 109 - Die Atemdiebin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Frenz
Vom Netzwerk:
Geschmeidig glitt sie unter überhängenden Ästen entlang, ohne ein einziges Blätterrascheln auszulösen.
    Wenn hier wirklich jemand lauerte, sollte er ihre Ankunft nicht bemerken.
    Wild wuchernde Dornen strichen ihr über Stiefel und Fellhose. Leicht nach vorne gebeugt, um ihre Konturen zu verwischen, schlug Aruula einen Bogen, um das Gelände rund um den Baum vorsichtig zu sondieren. Gegen den Mond betrachtet erschien seine kahle Verästelung wie ein bösartiges Geschwür. Aruula atmete gleichmäßig ein und aus. Sie vermied jede hastige Bewegung und setzte vorsichtig einen Schritt vor den anderen.
    Links von ihr erklang ein leichtes Scharren wie von einem Tier. War es das, was der Rabe entdeckt und dann für harmlos befunden hatte? Obwohl ihre Pupillen längst der Dunkelheit angepasst waren, konnten sie nichts Verdächtiges entdecken.
    Allerdings ragte in der Richtung des Geräusches das Strauchwerk hoch genug auf, um eine halbe Armee darin zu verstecken.
    Jeden Schatten als Deckung nutzend, schlich sie darauf zu und tauchte zwischen einigen dicht beieinander stehenden Farnen ein. Nachdem sie einen Wall aus Dornen, umgestürzten Biirken und Schlingkraut durchschritten hatte, wich das Dickicht wieder zurück und offenbarte eine Stelle, die nur von weit auseinander stehenden Bäumchen bewachsen wurde.
    Aruula machte schnell einige Schritte zur Seite, um kein Ziel zu bieten, und verharrte dann. Atemlos lauschte sie in die Stille hinein, die erneut von einem Rascheln durchbrochen wurde. Ganz leise nur, und dabei klang es, als ob jemand Getreidehalme mit einer Sichel schnitt. Vielleicht ein Tier, das graste?
    Lautlos schlich sie weiter. Die Baumkronen schirmten den Mond weiträumig ab. Das wenige Licht, das zwischen den Blättern einsickerte, schuf nur kleine gelbe Inseln inmitten des Schattenmeeres. Trotz zusammengekniffener Augen hatte Aruula Mühe, etwaige Hindernisse auszumachen. Ein Gegner, der sie hier erwartete, befand sich im Vorteil. Er musste nur in seinem Versteck ausharren, bis Aruula in seine Fänge lief.
    Ihre Nerven waren bis aufs Äußerste angespannt. Bereit, selbst auf die geringste Veränderung am Rand ihres Sichtfeldes zu reagieren, umrundete sie gerade einen mit faserigen Moos und Efeu umwachsenen Baumstamm, als hinter ihr ein morscher Ast unter dem Gewicht eines Menschen zerbrach.
    Aruula kannte das Geräusch; sie hatte es schon ein Dutzend Mal in prekären Situationen gehört.
    Nach dem Schwert zu greifen, herumzuwirbeln und auf den Gegner zuzuspringen war eins. Der Bihänder wurde zu einer natürlichen Verlängerung ihrer Arme, die wie etwas Lebendiges durch die Luft schnitt. Ein Schrei erklang, obwohl sie eine Daumenbreite vor dem hellen Fleck abstoppte, der wie ein menschlicher Hals wirkte. Eine deutlich hervorgetretene Schlagader zitterte dicht unter der Haut.
    »Mach keinen Unsinn«, bat eine bekannte Stimme. »Ich bin's: Alaan, der Lischettenfänger.«
    Aruula beließ die scharfe Klinge an seinem Hals und dirigierte ihn so zwei Schritte weiter, zu einem einfallenden Lichtschein, der das Gesicht aus der Finsternis schälte.
    Tatsächlich. Es war Alaan, und er machte keinen sonderlich bedrohlichen Eindruck.
    Sie nahm das Schwert herunter und stieß die Spitze in den weichen Moosboden, sodass sie sich lässig auf den Knauf lehnen konnte.
    »Meine Güte, wie hast du mich nur im Dunkeln entdeckt?«
    Alaan atmete laut hörbar auf. »Du musst wirklich eine Schamanin sein.«
    Nun, wenn sie wirklich zaubern könnte, hätte sie sicher vorher gewusst, dass er harmlos war. Aber das behielt Aruula wohlweislich für sich.
    »Was machst du hier?«, fragte Aruula scharf. »Alle anderen Einwohner der Stadt halten sich heute Nacht von diesem Hügel fern, aus Angst vor dem Atemdieb.«
    »Gerade deshalb bin ich ja hier«, sagte Alaan hastig.
    »Wegen der Atemdiebin.«
    Atemdiebin? Aruula spitzte die Ohren. »Weiter!«, forderte sie.
    Irgendetwas bewegte den jungen Mann, das war nicht zu übersehen. »Es ist nämlich, weil… Du bist doch eine Schamanin, oder?« Alaan bekam plötzlich Angst vor der eigenen Courage, doch als sie ihm aufmunternd zunickte, fasste er sich ein Herz und fuhr fort: »Nun… mit deinen Kräften kannst du doch sicher auch jemandem helfen, der besessen ist, oder?«
    Aruula hatte längst erlauscht, dass er mehr über den Atemdieb wusste als jeder andere in Liion. Und dass er bereit war, darüber zu sprechen. Sie musste ihm jetzt nur die richtige Antwort geben.
    »Ja, ich verstehe mich

Weitere Kostenlose Bücher