1092 - Der Vampirengel
rechten Arm sinken. Sehr langsam drehte er sich zu seiner Partnerin um, die ihn nur stumm anschaute. Erst als Dagmar sein Nicken auffiel und sie auch die Gänsehaut auf seinen Wangen entdeckt hatte, zuckten ihre Lippen. »Habe ich es dir nicht gesagt, Harry?«
Stahl mußte tief Luft holen. »Ja, das hast du. Ich habe dir nicht so recht geglaubt, aber jetzt sehe ich es mit eigenen Augen, obwohl ich es noch immer nicht fassen kann. Wie kann jemand als Grabfigur einen Vampirengel aufstellen?«
»Das weiß ich leider auch nicht, Harry.«
»Und worin besteht die Verbindung zu dir?«
»Ich bin im Moment überfragt. Aber es hat mich hergetrieben, das ist es.«
»Ähnlichkeiten zwischen euch gibt es auch nicht.«
»Stimmt.«
»Und ich kann nicht begreifen, daß dieser Engel ein Vampir sein soll, den wir hier pfählen müssen. Wie soll ich eine Figur aus Stein pfählen? Dazu noch mit einem Eichenpflock, der auch angespritzt nicht durchdringen wird?«
Dagmar strich durch ihre Haare und ließ die Gestalt nicht aus den Augen. Es war ihr anzusehen, daß sie überlegte, und sie fragte mit leiser Stimme: »Ist er nur eine Figur?«
»Es sieht so aus.«
»Ich glaube es nicht. Da steckt mehr dahinter, sonst hätte es mich nicht hergetrieben.«
»Also pfählen. Oder es zumindest versuchen.«
»Deshalb sind wir hier.«
»Soll ich es tun, oder willst du ihn dir vornehmen?«
Dagmar hatte einen anderen Vorschlag. »Wir werden es gemeinsam in Angriff nehmen.«
»Wie du willst.«
»Das Werkzeug, Harry.«
Während er es hervorholte, schaute sich Dagmar Hansen um. Sie wirkte zwar noch immer sehr selbstsicher, aber nicht mehr so agil wie zu Beginn. Sie machte mehr einen mißtrauischen Eindruck, schaute sich jetzt genauer um und ließ auch den hellen Arm der Taschenlampe in verschiedene Richtungen wandern.
Harry hielt die beiden Gegenstände in einer Hand fest. Er hatte Dagmar beobachtet und fragte: »Ist dir was aufgefallen?«
»Im Prinzip nicht.«
»Aber du fühlst dich nicht mehr so sicher?«
»Das stimmt. Kann nur ein dummes Gefühl sein, aber ich meine, ein Geräusch gehört zu haben.«
Sie zuckte die Achseln. »Ist im Prinzip egal, Harry wir haben unseren Job zu tun.«
»Okay.«
Harry wartete, bis Dagmar zu ihm herangetreten war. Aber sie wollte noch nicht mit dem Pfählen beginnen, sondern untersuchte die Figur. Die Taschenlampe hatte sie in den Gürtel gesteckt und ausgeschaltet. Jetzt fuhren ihre Hände über die Figur hinweg. Sie zeichneten den gesamten Körper nach. Sie strichen über die steinernen Brüste, die Oberschenkel und auch über den Rücken hinweg.
»Kommt dir was komisch vor?«
»Ich weiß nicht so recht. Es ist Stein. Zumindest fühlte sich das Material so an.«
»Aber…«
»Trotzdem ist es anders, Harry. Ich will nicht von einer Weichheit sprechen, doch unter dieser harten Oberfläche muß etwas vorhanden sein, das lebt.«
Harry blies die Wangen auf. »Dann ist das alles hier möglicherweise nur eine Tarnung?«
»Wie ich es mir dachte. Unter dem Stein kann sich alles mögliche verstecken.«
»Auch eine Untote.«
»Ja.« Dagmar zog ihre Hände von der Figur fort, drehte sich zu Harry um und meinte: »Wir sollten es in Angriff nehmen.«
Harry gab keine Antwort. Ihm war etwas aufgefallen, auf das Dagmar nicht geachtet hatte. Es war auch kein Schattenspiel, das über das Gesicht huschte, sondern etwas anderes. Ein Zucken der Wangen, ein Zwinkern mit den Augen, als wäre plötzlich ein gewisses Leben in die Figur hineingekommen.
»Schläfst du?« fragte Dagmar.
»Nein.«
»Was ist denn?«
»Kann es sein, daß sich unser Vampirengel im Gesicht bewegt hat, Dagmar?«
Zunächst sagte sie nicht, hob nur den Blick und beobachtete das Gesicht. Sie selbst sah nichts. Der Engel blieb wie er war. Nichts verriet, daß sich etwas anderes hinter ihm verbergen könnte.
»Und du hast dich nicht getäuscht?«
»Nein, Dagmar!«
»Dann wird es Zeit!« sagte sie.
»Dann scheine ich mich nicht geirrt zu haben. Wir sind einem Geheimnis auf die Spur gekommen, das uns noch einiges Kopfzerbrechen bereiten kann. Je schneller wir es hinter uns haben, um so besser ist es. Fang an.«
Harry trat vor den Engel. Bisher hatten beide seitlich des Grabs gestanden, denn so hatten sie auch in das Gesicht der Gestalt schauen können.
Nun sahen sie es im Profil. Die Nase war etwas dick und leicht nach oben geschwungen. Sogar die Lippen hoben sich deutlich ab. Dieser Figur hatte jemand einen Kußmund gegeben.
Um beide
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