1094 - Der Mann aus Haiti
wasserte und die Besatzung überstieg, fand man die Diebe - tot. Neben ihnen lag der Kristall, in eine wasserdichte Folie gewickelt." Er blickte Eartha fassungslos an.
„Du erwähntest vorhin Selbstmord", sagte McMahon.
Salomon nickte.
„Sie haben sich die Pulsadern aufgeschnitten."
Eartha bekreuzigte sich.
„Gott sei ihren Seelen gnädig. Aber warum nur?"
Salomon zuckte die Schultern.
„Vielleicht erfahren wir draußen mehr. Gustave und ich sollen hinkommen, und du sollst uns begleiten, Eartha. Das heißt, wenn du meinst, daß du es ohne Schaden für dich und dein Kind..."
„Ich komme mit", sagte Eartha wie unter einem inneren Zwang.
„Der Arzt wird wohl nicht mehr gefragt!" stellte McMahon brummig fest. „Na, vorsichtshalber werde ich dich begleiten, Bella."
Salomon rief Gustave, und gemeinsam flogen sie im Gleiter des Ordnungsdiensts in die breite Meeresbucht westlich von Portau-Prince hinaus. Schon von weitem waren südlich der Gonave-Insel mehrere auf dem Wasser schwimmende Gleiter zu sehen, die ein Doppelrumpfboot mit eingeholtem Segel umringten. Ein Ambulanzgleiter setzte gerade zur Wasserung an.
Als sie landeten, wurden sie von einem älteren, beleibten Ordnungshüter empfangen, der sich als stellvertretender Direktor des Ordnungsdiensts in Portau-Prince vorstellte und Eartha den eingewickelten Kristall überreichte.
„Bitte, sieh nach, ob das dein Kristall ist, Eartha Weidenburn!" forderte er sie auf.
Eartha schlug die Folie zurück und schloß die Augen, als das bläuliche Feuer des Kristalls sie überflutete. Sie nickte.
„Ich muß dich leider noch bitten, dir die beiden Toten anzusehen", fuhr der stellvertretende Direktor fort. „Es wäre ja möglich, daß du sie kennst. Sie haben ihre ID-Karten nicht bei sich; deshalb konnten wir sie noch nicht identifizieren."
Halbbetäubt ließ Eartha sich in den Ambulanzgleiter bringen, in den die beiden Toten inzwischen gebracht worden waren. Dort starrte sie in schweigendem Entsetzen auf die bleichen Gesichter der Diebe.
„Warum nur?" flüsterte sie.
„Panikreaktion", antwortete der stellvertretende Direktor. „Sie waren jung, und es war wahrscheinlich ihr erster Diebstahl. Als ihnen klar wurde, daß sie das Gesetz gebrochen hatten - vielleicht hatten sie vorher alles nur als Abenteuer gesehen -, werden sie in Panik geraten sein. Sie konnten nicht mehr klar denken und haben sich aus Furcht vor Verfolgung und Blamage umgebracht. So etwas gibt es - leider."
4. Die Geburt
Als die Erde fruchtbar und lebendig geworden war, schuf der zu einem Raben gewordene Mann die Menschen. Manche erzählen, daß er sie aus Lehm formte, genauso, wie er oben im Himmel eine Gestalt nach seinem Ebenbild schuf. Aber andere behaupten, daß die Menschen ihre Entstehung einem Zufall verdanken, der noch wunderbarer ist, als wenn sie wirklich mit Absicht und Vorsatz geschaffen worden wären.
Eartha runzelte die Stirn, nachdem sie die Übersetzung eines weiteren Teils des Eskimo-Märchens von der Entstehung des Lebens auf dem Display ihres Computer-Terminals gelesen hatte.
Wie hatten die alten Eskimos auf den Gedanken kommen können, daß die Menschen ihre Entstehung etwas verdankten, das in der Evolution als Zufallsgenerator angesehen werden konnte? Auf ihrer damaligen Entwicklungsstufe hatten sie doch überhaupt nichts von der Evolution gewußt.
Oder hatte dieses Wissen von Anfang an in der Materie geruht und war manchmal lange vor dem allgemeinen Erwachen in einzelnen Menschen an die Oberfläche des Bewußtseins gestiegen?
Sie tippte eine entsprechende Frage in den Terminal. Natürlich hätte sie sie auch einfach nur aussprechen können, aber da sie ein stark ausgeprägter visueller Typus war, brauchte sie die ständige optische Kontrolle, um einen Text optimal formulieren zu können.
Da die Frage nicht rechnerisch beantwortet werden konnte, machte sich Eartha auf eine Wartezeit von einigen Minuten gefaßt. Unter Umständen waren die auf Terra installierten Elemente der solaren Computervernetzung nicht in der Lage, eindeutig darauf zu antworten und würden erst noch NATHAN konsultieren.
Sie beschloß deshalb, eine Kleinigkeit zu essen. In letzter Zeit war ihr Appetit ziemlich groß gewesen. Das würde aber bald aufhören, denn vor knapp zwei Stunden hatten die ersten Wehen eingesetzt.
Sie stand auf - und setzte sich sofort wieder, als ein ruckartiges schmerzhaftes Ziehen durch ihren Leib schnitt. Erschrocken fühlte sie, daß warme Flüssigkeit
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