1094 - Der Mann aus Haiti
allen."
Er wischte sich mit dem Ärmel seines Jacketts den Schweiß von der Stirn und holte tief Luft.
„Eartha, ich bin kein guter Reporter, sonst würde ich nicht sagen, was ich dir jetzt sagen muß. Dieser Kristall ist mehr als nur ein sehr großer Kristall, sehr viel mehr. Er ist Wahrheit, Güte, Hoffnung. Ich bin verwirrt. Hat er meine Sinne verwirrt? Nur eines erkenne ich ganz klar: Ich hätte dich niemals dazu überreden dürfen, diese Kostbarkeit der Öffentlichkeit zu zeigen, denn sie gehört ganz allein dir und niemandem sonst."
„Er ist ein Geschenke für unseren Sohn", sagte Eartha. „Für Eric, den Sohn Hirt Lammasos und mich."
„Verwahre ihn gut, Eartha!" sagte Willem Fisher. „Er ist mehr als das, was er zu sein scheint. Bitte, entschuldige, daß ich dich überredet habe..." Er murmelte noch etwas Unverständliches, dann wandte er sich an seine Assistentinnen und sagte: „Isa und Carmona, die Übertragung ist beendet - und meine Karriere als Reporter auch. Zum Teufel damit! Ausschalten! Ausschalten, habe ich gesagt!"
Noch lange, nachdem die Haustür sich hinter dem Aufnahmeteam geschlossen hatte, stand Eartha vor dem Kristall und war versunken in sein bläuliches Glühen. Sie fragte sich, ob der Kristall tatsächlich etwas ausstrahlte, was den menschlichen Geist verwirren konnte. Sie selbst hatte nie so etwas gespürt, aber vielleicht nur deshalb nicht, weil das, was er ausstrahlte, genau das war, was sie ohnehin fühlte und dachte.
Oder weil Willem Fisher ein Opfer seiner Einbildungskraft geworden war...
*
Mitten in der Nacht wachte sie auf.
Jemand hatte um Hilfe geschrieen.
Verwirrt schwang sie die Beine aus dem Bett und setzte sich auf die Kante.
Es konnte nicht sein. Sie konnte keinen Hilfeschrei gehört haben, denn die Wände ihres Hauses waren nicht nur elektronisch dicht (um Störungen der Computersysteme zu verhindern), sondern auch absolut schalldicht. Außerdem waren alle Fenster geschlossen (sie hatte einen Haustyp gewählt, bei dem sie sich nicht öffnen ließen, wahrscheinlich unterbewußt motiviert durch ihr langes Leben in Raumschiffen, also in nach außen geschlossenen Systemen). Und außer ihr lebte niemand in dem Haus - abgesehen von dem neuen Leben in ihr selbst, das sich in diesem Augenblick wieder einmal zu regen begann.
Da hörte sie zum zweitenmal den Hilferuf!
Sie schüttelte den Kopf.
Nein, sie hatte ihn nicht gehört, sondern gefühlt, empfunden, gespürt.
Erschrocken legte sie die Hände auf ihren weit vorgewölbten Leib, in Sorge um das Kind, dessen Geburt in den nächsten Tagen erfolgen sollte.
War mit ihm etwas nicht in Ordnung? Befand es sich in Gefahr?
Aber es bewegt sich genauso wie immer, also normal!
Und wenn es sich doch nicht normal bewegt? Schließlich habe ich keinerlei Erfahrungen damit. Es ist mein erstes Kind.
Sie fühlte, wie ihre Achselhöhlen naß wurden, wie der Schweiß an den Seiten ihres Körpers herabrann und den dünnen Stoff ihres Hemdes mit der Haut verklebte.
Ich habe Angst!
Übervorsichtig, um dem - vielleicht - gefährdeten Kind nicht zu schaden, obwohl normale Bewegungen völlig unschädlich waren, wie ihr Arzt ihr versichert hatte, stieg sie aus dem Bett und ging auf nackten Sohlen ins benachbarte Arbeitszimmer.
Das Chronofeld unter dem Bildschirm des Computer-Terminals zeigte 0.24.41 Uhr Ortszeit an.
Was wird Doktor McMahon sagen, wenn ich ihn um diese Zeit aus dem Bett hole?
Sie schrie gellend auf, als sie zum drittenmal den Hilferuf hörte. Nein, nicht hörte, sondern fühlte, empfand, spürte. Intensiver als die beiden Male zuvor. Viel intensiver.
Etwas polterte!
Eartha wußte, daß das Geräusch aus dem Wohnzimmer gekommen war, das genau unter dem Arbeitszimmer lag, aber es dauerte eine Weile, bis sie dem Gedanken Raum gab, daß sich dort unten jemand befand, der dort nichts zu suchen hatte.
Ein Einbrecher!
Und plötzlich wußte sie auch, was der Einbrecher dort suchte.
Den Kristall!
Die logische und vernünftige Reaktion auf diese Erkenntnis wäre gewesen, das Sensorfeld ganz rechts auf der Schaltkonsole des Terminals zu berühren und dadurch die nächste Station des Ordnungsdiensts darüber zu informieren, daß sie Hilfe brauchte, so daß sich jemand von der Nachtbereitschaft über ihren Computer-Terminal bei ihr meldete und sich nach dem Grund für die Alarmierung erkundigte.
Doch Eartha vermochte in diesen Sekunden weder logisch noch vernünftig zu denken und zu reagieren. Sie dachte
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