11 - Nie sollst Du vergessen
eine Murmel. Er war so stark abgemagert, dass sie das Gefühl hatte, seine Knochen müssten jeden Moment die papierdünne Haut durchbohren.
»Du kannst wahrscheinlich an gar nichts anderes denken, hm?«, sagte sie. »Aber vergiss es einfach. Nicht für immer, aber für eine Weile. Bleib hier mit mir liegen und vergiss es.«
»Das darf ich nicht«, entgegnete er mit einem bitteren Lachen.
»Ich habe die Aufgabe, mich an alles zu erinnern.« Seine Füße rieben sich aneinander. Er krümmte sich noch mehr zusammen, und Libby drückte ihn fester an sich. Schließlich sagte er: »Sie ist auf freiem Fuß, Libby. Mein Vater wusste es, aber er hat es mir nicht gesagt. Darum ist die Polizei an der alten Geschichte interessiert. Sie ist aus dem Gefängnis entlassen worden.«
»Wer? Du meinst -?«
»Katja Wolff.«
»Glauben sie denn, sie könnte deine Mutter überfahren haben?«
»Keine Ahnung.«
»Weshalb sollte sie? Weit einleuchtender wäre doch, dass deine Mutter den Wunsch hatte, sie totzufahren.«
»Normalerweise, ja«, sagte Gideon, »aber in meinem Leben ist nichts normal, folglich gibt es keinen Grund, weshalb der Tod meiner Mutter normal sein sollte.«
»Deine Mutter hat damals sicher gegen sie ausgesagt«, meinte Libby. »Vielleicht hat sie die ganze Zeit im Knast nur darüber nachgedacht, wie sie es allen heimzahlt, die sie da reingerissen haben. Aber wenn das stimmt, wie hat sie deine Mutter überhaupt gefunden, Gideon? Ich meine, nicht mal du hast gewusst, wo sie ist. Wie soll da diese Wolff sie ausfindig gemacht haben? Und selbst wenn sie das geschafft und sie umgebracht hat, warum dann ausgerechnet in der Straße, wo dieser Typ wohnt?« Libby dachte über ihre Fragen nach und gab die Antwort selbst. »Um Pitchford zu warnen?«
»Oder jemand anderen.«
Barbara Havers hörte am Telefon, was Lynley von Richard Davies erfahren hatte, auch den Namen, den sie brauchte, um ins Kloster der Unbefleckten Empfängnis reingelassen zu werden. Dort, sagte er, solle sie versuchen, jemanden ausfindig zu machen, der ihr etwas über den Verbleib einer Schwester Cecilia Mahoney sagen könne.
Das Kloster stand auf einem Grundstück, das wahrscheinlich ein königliches Vermögen wert war, umgeben von Gebäuden aus der letzten Dekade des 17. Jahrhunderts, die alle unter Denkmalschutz standen. Hier hatten zu der Zeit, als William und Mary ihr bescheidenes kleines Nest in den Kensington Gardens gebaut hatten, die Händler und Unternehmer ihre Landhäuser errichtet. Jetzt war der Platz im Besitz einiger Firmen, die sich in den historischen Gebäuden breit gemacht hatten, und der Insassen eines zweiten Klosters - woher, zum Teufel, hatten die Nonnen die Kohle, um sich hier häuslich niederzulassen, fragte sich Barbara - und der Bewohner einer Anzahl von Häusern, die vermutlich seit mehr als dreihundert Jahren im Besitz der dort ansässigen Familien waren. Im Gegensatz zu einigen anderen alten Plätzen in der Stadt, die durch Bomben oder die Geldgier aufeinander folgender konservativer Regierungen mit nichts als Bigbusiness, Riesengewinnen und Privatisierungsplänen verwüstet worden waren, zeigte sich der Kensington Square größtenteils unverändert: ein Geviert aus schönen alten Gebäuden mit Blick auf einen kleinen Park in der Mitte, wo unter jedem Baum rostbraunes Herbstlaub auf grünem Rasen leuchtete.
Ein Parkplatz war nicht zu finden. Barbara stellte ihren Mini auf dem Bürgersteig auf der Nordseite des Platzes ab, wo ein strategisch platzierter Poller verhinderte, dass die Autofahrer die Route über den Platz als Schleichweg benutzten und die Ruhe des Viertels störten. Zur Sicherheit legte sie ihren Polizeiausweis auf das Armaturenbrett des Wagens, bevor sie ausstieg.
Wenig später hatte sie Schwester Cecilia Mahoney gefunden, die immer noch im Kloster der Unbefleckten Empfängnis lebte und, als Barbara vorsprach, gerade in der Kapelle arbeitete. Wie eine Nonne, fand Barbara, sah sie nicht aus. Dem Klischee zufolge waren Nonnen alte Frauen, die man an ihrer schweren schwarzen Tracht, klirrenden Rosenkränzen und mittelalterlichen Flügelhauben erkannte.
Cecilia Mahoney entsprach nicht dem Klischee. Ja, als Barbara die Frau im Schottenrock mit der Marmorpolitur in der Hand auf der kleinen Trittleiter erblickte, hielt sie sie zuerst für eine Putzfrau, zumal sie gerade damit beschäftigt war, einen Altar zu reinigen, dessen Hauptattraktion eine Jesusfigur mit goldenem, anatomisch nicht ganz korrekt sitzendem
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