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11 - Nie sollst Du vergessen

11 - Nie sollst Du vergessen

Titel: 11 - Nie sollst Du vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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erstatten?«
    Gideon trat nur wortlos von der Tür zurück und ließ sie herein. Er ging nach oben, und sie folgte ihm ins Schlafzimmer, wo er sich offensichtlich aufgehalten hatte, als sie geklopft hatte. Die Abdrücke seines Kopfs und seines Körpers auf dem Bett waren noch frisch.
    Auf dem Nachttisch brannte gedämpftes Licht. Die Schatten, die sein trüber Schein nicht aufzulösen vermochte, legten sich auf Gideons Gesicht und ließen es schwarz und ausgehöhlt erscheinen. Seit dem Debakel in der Wigmore Hall schien er umhüllt von einer Aura von Angst und Mutlosigkeit, aber jetzt hatte sich noch etwas anderes dazu gesellt. Libby sah es, nur, was war es? Qual, dachte sie und sagte: »Was ist passiert, Gideon?«
    Er antwortete schlicht: »Meine Mutter ist ermordet worden.«
    Sie riss die Augen auf. »Deine Mutter? Im Ernst? Das kann doch nicht sein! Wann denn? Wie ist es passiert? Das ist ja furchtbar. Setz dich doch hin.« Sie drängte ihn zu seinem Bett, und er setzte sich gehorsam, die Arme auf die Knie gestützt. »Was ist passiert?«, fragte sie ein zweites Mal.
    Gideon berichtete das wenige, das es zu berichten gab, und schloss mit den Worten: »Mein Vater musste den Leichnam identifizieren. Später war jemand von der Polizei bei ihm. Ein Kriminalbeamter, sagte er. Er hat vorhin angerufen.« Gideon umschlang seinen Oberkörper mit beiden Armen und schaukelte vor und zurück wie ein Kind. »Das war's dann«, sagte er.
    »Wie meinst du das?«, fragte Libby.
    »Jetzt gibt es keine Hoffnung mehr.«
    »Sag so was nicht, Gideon.«
    »Ebenso gut könnte ich auch tot sein.«
    »Mensch, Gideon! Hör auf!«
    »Aber es ist wahr.« Er fröstelte und sah sich wie suchend im Zimmer um, während er fortfuhr zu schaukeln.
    Libby versuchte zu erfassen, was der Tod seiner Mutter bedeutete: für seine Vergangenheit, seine Gegenwart und seine Zukunft. »Gideon«, sagte sie, »du schaffst es schon. Du wirst über das alles hinwegkommen«, und sie bemühte sich so zu sprechen, als wäre sie überzeugt von ihren Worten, als wäre es für sie ebenso wichtig wie für ihn, ob er Geige spielte oder nicht.
    Sie bemerkte, dass aus seinem Frösteln ein heftiger Schüttelfrost geworden war. Am Fußende seines Betts lag eine Wolldecke, die sie nahm und ihm um die mageren Schultern legte.
    »Möchtest du darüber reden?«, fragte sie. »Über deine Mutter? Über - naja, ich weiß nicht - über das, was dich bewegt.« Sie setzte sich neben ihn und nahm ihn in den Arm. Mit der anderen Hand hielt sie die Decke an seinem Hals zusammen, bis er den Arm hob und die Zipfel selbst ergriff.
    »Sie war auf dem Weg zu James, dem Untermieter«, sagte er.
    »Zu wem?«
    »James Pitchford. Er wohnte bei uns, als meine Schwester - als sie starb. Es ist merkwürdig, ich habe in letzter Zeit öfter an ihn denken müssen, obwohl ich vorher jahrelang nicht einen Gedanken an ihn verschwendet hatte.«
    Er verzog das Gesicht, und sie bemerkte, dass er eine Hand auf seinen Magen drückte, als hätte er Schmerzen.
    »Jemand hat sie in der Straße, in der James Pitchford wohnt, überfahren«, sagte er. »Nicht einmal, sondern mehrmals, Libby. Mein Vater meint, weil sie auf dem Weg zu James war, wird die Polizei jetzt alle sprechen wollen, die damals irgendwie betroffen waren.«
    »Wieso?«
    »Ich vermute, die Fragen, die sie ihm stellten, haben ihn darauf gebracht.«
    »Ich meinte, wieso er glaubt, dass die Bullen jetzt alle sprechen wollen. Ich meine, warum sollen sie das wollen? Gibt es denn einen Zusammenhang zwischen damals, was vor zwanzig Jahren passiert ist, und jetzt? Klar, irgendeine Verbindung muss es geben, wenn deine Mutter diesen James Pitchford besuchen wollte. Aber wenn jemand von damals sie getötet hat, warum hat er dann bis heute gewartet?«
    Gideon krümmte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht. »O Gott, mein Magen brennt wie glühende Kohlen.«
    »Dann leg dich hin.« Libby drückte ihn aufs Bett hinunter. Auf die Seite gedreht, rollte er sich zusammen und zog die Knie bis zur Brust hoch. Libby zog ihm die Schuhe aus. Er hatte keine Socken an, und seine Füße waren milchweiß. Er rieb sie krampfhaft aneinander, als könnte ihn das vom Schmerz ablenken.
    Libby legte sich neben ihn unter die Decke und umhüllte seinen Körper mit dem ihren. Sie schob ihre Hand unter seinem Arm hindurch und legte sie flach auf seinen Magen. Sie spürte den Druck seiner Wirbelsäule, die sich in die Krümmung ihres Körpers schmiegte, spürte jeden einzelnen Wirbel wie

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