11 - Nie sollst Du vergessen
ihrer Tochter - eine Frau namens Katja Wolff - erst vor kurzem aus dem Gefängnis entlassen wurde.«
Schwester Cecilia drehte sich mit beinahe heftiger Bewegung herum. »Sie können nicht im Ernst glauben, dass die arme Katja mit dieser Sache etwas zu tun hatte!«
Die arme Katja! Barbara fragte: »Kannten Sie sie denn?«
»Natürlich kannte ich sie. Sie hat hier im Kloster gewohnt, bevor sie die Stellung bei der Familie Davies angenommen hat. Die lebte damals auch hier am Kensington Square.«
Katja sei Flüchtling aus der ehemaligen DDR gewesen, erklärte Schwester Cecilia und berichtete von der Flucht der jungen Frau und der nachfolgenden Übersiedelung nach England.
Katja Wolff hatte Träume gehabt, wie alle jungen Mädchen sie haben, auch in Ländern, wo die Freiheit so eingeschränkt ist, dass allein schon das Träumen gefährlich ist. Sie war in Dresden geboren und aufgewachsen, und ihre Eltern hatten fest an das Regime geglaubt, unter dem sie lebten. Ihr Vater, im Zweiten Weltkrieg ein halbwüchsiger Junge, hatte das Schlimmste mitgemacht, was geschehen kann, wenn Nationen miteinander in Konflikt geraten, und sich in der Überzeugung, dass nur der Kommunismus die globale Zerstörung verhindern könne, mit Leib und Seele der sozialistischen Ideologie verschrieben. Den Wolffs, linientreue Parteimitglieder ohne familiäre Verbindungen zur Intelligenz, für deren Fehler sie hätten bezahlen müssen, ging es gut. Die Familie zog irgendwann von Dresden nach Berlin um.
»Aber Katja war anders«, fuhr Schwester Cecilia fort. »Katja war der lebende Beweis dafür, Constable, dass jedes Kind mit einer intakten Persönlichkeit geboren wird.«
Anders als ihre Eltern und die vier Geschwister verabscheute Katja Wolff die Atmosphäre in diesem Staat, der allgegenwärtig war im Leben seiner Bürger. Sie konnte sich nicht damit abfinden, dass das Leben des Einzelnen von Geburt an »beschrieben, bestimmt und definiert« war. Und in Ostberlin - dem Westen so nahe -bekam sie einen ersten Vorgeschmack davon, wie das Leben sein könnte, wenn es ihr gelänge, aus dem Land ihrer Geburt zu fliehen. In Ostberlin sah sie zum ersten Mal Westfernsehen, und von Westberlinern, die geschäftlich im Osten der Stadt zu tun hatten, hörte sie, wie das Leben dort drüben war, im Land der Freiheit, wie sie es nannte.
»Sie sollte irgendein naturwissenschaftliches Fach studieren, heiraten und Kinder bekommen, um die sich dann der Staat gekümmert hätte«, erzählte Schwester Cecilia weiter. »So machten es ihre Schwestern, und so wünschten es ihre Eltern auch von ihr. Aber sie wollte Modezeichnerin werden.« Schwester Cecilia drehte sich zu Barbara um und schüttelte lächelnd den Kopf.
»Können Sie sich vorstellen, wie dieser Plan bei den Parteifreunden ankam?«
Katja Wolff war also geflohen und hatte dank ihrer spektakulären Flucht eine gewisse Berühmtheit erlangt, durch die wiederum das Kloster auf sie aufmerksam geworden war. Man hatte sie in das Programm für politische Flüchtlinge aufgenommen, das diesen, bei freier Kost und Logis im Kloster, ein Jahr lang Gelegenheit geben sollte, sich so gründlich wie möglich mit der neuen Sprache und Kultur vertraut zu machen.
»Als sie zu uns kam, sprach sie kein Wort Englisch und hatte nichts bei sich als die Kleider, die sie auf dem Leib trug. Sie blieb das ganze Jahr bei uns, bevor sie die Stellung bei der Familie Davies antrat, wo sie bei der Betreuung des neu geborenen Kindes helfen sollte.«
»Haben Sie die Familie erst bei dieser Gelegenheit kennen gelernt?«
»Nein, nein. Ich kannte Eugenie seit vielen Jahren. Sie kam regelmäßig zur Messe hier in die Kapelle. Sie war uns allen bekannt. Hin und wieder haben wir ein paar Worte miteinander gewechselt, und ich habe ihr dieses oder jenes Buch geliehen - vermutlich sind das die Bücher, die Sie bei ihr gefunden haben -, aber näher kennen gelernt habe ich sie erst nach Sonias Geburt.«
»Ich habe eine Fotografie des kleinen Mädchens gesehen.«
»Tja.« Schwester Cecilia polierte die kunstvollen Schnitzereien auf der Front des Altars. »Eugenie war nach der Geburt dieses Kindes zutiefst niedergeschlagen und verzweifelt. Ich vermute, jede andere Mutter hätte genauso reagiert. Es muss immer eine Zeit der Anpassung geben, nicht wahr, wenn ein Kind geboren wird, das nicht den Erwartungen entspricht. Und ich kann mir vorstellen, dass es für Eugenie und ihren Mann vielleicht ein noch größerer Schlag war als für andere Eltern,
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