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11 - Nie sollst Du vergessen

11 - Nie sollst Du vergessen

Titel: 11 - Nie sollst Du vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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rief sie, »was tust du denn so spät noch hier draußen?«
    Die beiden drehten sich zu ihr um. »Hallo, Mam«, rief Daniel.
    »Ich hab meinen Schlüssel vergessen.«
    Der Mann sagte nichts.
    »Warum bist du dann nicht in den Laden gekommen?«, fragte Yasmin mit wachsendem Argwohn.
    Daniel senkte den Kopf wie immer, wenn er ein schlechtes Gewissen hatte. Den Blick auf seine NikeLaufschuhe gerichtet, die sie ein Vermögen gekostet hatten, sagte er: »Ich bin rüber in die Kaserne, Mam. Da hat einer die Soldaten geprüft. Sie haben alle in einer Reihe gestanden, und ich hab zuschauen dürfen, und hinterher haben sie mich noch zum Abendessen eingeladen.«
    Almosen, dachte Yasmin. Beschissene Almosen. »Haben die gedacht, du hättest kein Zuhause, oder was?«, fragte sie scharf.
    »Mam, die kennen mich. Und ich kenne sie auch. Einer hat gesagt: ›Ist deine Mama nicht die hübsche Frau mit den Perlen im Haar?‹«
    Yasmin prustete ärgerlich. Ohne den Mann an der Seite ihres Sohnes eines Blickes zu würdigen, reichte sie Daniel zwei der Plastiktüten. »Geh vorsichtig mit ihnen um. Da gibt's einiges für dich zu waschen«, sagte sie und tippte den Code für den Aufzug ein.
    Das war der Moment, als der Mann sie ansprach. In einem Tonfall, der wie ihrer die Kindheit südlich vom Fluss verriet, dem aber die westindischen Ursprünge stärker anzuhören waren, sagte er:
    »Mrs. Edwards?«
    »Ich kaufe nichts.« Sie wendete den Blick nicht von der Aufzugtür. »Daniel?«, sagte sie kurz, und der Junge trat zu ihr, um mit ihr auf den Aufzug zu warten. Sie legte ihm beschützend eine Hand auf die Schulter. Daniel drehte sich nach dem Fremden um, doch Jasmin zog ihn zurück und zwang ihn, den Blick wieder auf den Aufzug zu richten.
    »Winston Nkata«, sagte der Fremde. »New Scotland Yard.«
    Da horchte sie doch auf. Er zeigte ihr seinen Ausweis, den sie sich ansah, bevor sie den Mann selbst betrachtete. Ein Bulle, dachte sie. Ein Bruder und ein Bulle. Nur eines war schlimmer als ein Bruder, der ein Ganove war, und das war ein Bruder, der zu den Bullen gegangen war.
    Sie nahm den Ausweis mit einer wegwerfenden Kopfbewegung zur Kenntnis, die so heftig war, dass die Perlen in ihren vielen Zöpfen ihm die Musik ihrer Verachtung spielten. Er sah sie so an, wie Männer sie immer ansahen, und sie wusste, was er sah und was er dachte. Er sah: ihren Körper in seiner vollen Größe von einem Meter achtzig; das walnussbraune Gesicht, das ein Modelgesicht hätte sein können, vollkommen geschnitten mit makelloser Haut, wenn nicht der Mund gestört hätte -genauer gesagt, die Oberlippe, für immer entstellt durch eine Narbe wie eine blutrote, voll erblühte Rose, die sie diesem Schwein Roger Edwards zu verdanken hatte, der ihr eine Vase ins Gesicht knallte, als sie sich geweigert hatte, ihm ihren Lohn von Sainsbury rauszurücken oder anschaffen zu gehen, um seine Sucht zu finanzieren; die Augen, kaffeebraun und zornig, zornig, aber auch misstrauisch. Und wenn sie in der kalten Abendluft ihren Mantel auszöge, würde er den Rest sehen, vor allem das sommerliche kurze Top, das sie anhatte, weil ihr Bauch flach war und ihre Haut straff und sie auf die Witterung keine Rücksicht nahm, wenn sie Lust hatte, den Leuten einen glatten, schlanken Bauch vorzuführen. Das also sah er. Und was dachte er? Was sie alle dachten, was sie immer dachten: Hätte nichts dagegen, mit der 'ne Nummer zu schieben, solang ihr einer 'ne Tüte übern Kopf stülpt.
    Er sagte: »Also, kann ich Sie mal kurz sprechen, Mrs. Edwards?«
    Und er redete so, wie sie immer redeten - als könnte er kein Wässerchen trüben.
    Der Aufzug kam. Die Tür öffnete sich so zögernd, als wären die Schienen mit geschmolzenem Käse verkleistert, als wollte sie sagen, wenn du blöd genug bist, einzusteigen und in den dritten Stock raufzufahren, wo du deine Wohnung hast, kann's dir passieren, dass du nicht wieder rauskommst, weil ich dann endgültig den Geist aufgegeben habe.
    Sie schob Daniel vor sich in die Kabine.
    Der Bulle wiederholte: »Mrs. Edwards? Kann ich Sie kurz sprechen?«
    »Hab ich vielleicht eine Wahl?«, erwiderte sie und drückte auf den Knopf für das dritte Stockwerk.
    Der Bulle sagte: »In Ordnung«, und stieg ein.
    Er war groß. Das war das Erste, was ihr im grellen Licht der Aufzugskabine auffiel. Er war mindestens zehn Zentimeter größer als sie. Und auch er hatte eine Narbe im Gesicht. Sie zog sich wie ein Kreidezeichen vom Winkel seines Auges über seine ganze

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